Samstag, 4. Oktober 2014

April 1935 - Erich Ludendorff als Gesprächspartner des militärischen Widerstandes gegen Hitler (II)

Aufsatz in zwei Teilen (dies ist Teil 2 - hier: Teil 1)

Nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 ist Erich Ludendorff vielfach von den Spitzen des deutschen Staates und der Wehrmacht umworben worden. Er stand aber zugleich in einem scharfen Spannungsverhältnis zu diesen. Das Ergebnis umfangreicher Verhandlungen Erich Ludendorffs mit der Wehrmachtspitze, insbesondere mit Ludwig Beck, lautete für Ludendorff: "Die Wehrmacht wird bald die abgelehnteste Einrichtung im ganzen Deutschen Reich sein." Und in der Tat sollte sich das ja, nachdem mancherlei Beschönigungen der Wehrmacht in den Nachkriegsjahrzehnten (u.a. um die Wiederbewaffnung besser vorantreiben zu können),  überwunden worden waren, spätestens mit und seit der Wehrmacht-Ausstellung des Jahres 1995 recht deutlich bewahrheiten.

Warum empfing Ludendorff ausgerechnet SA-Brigadeführer?

Das Foto von Abbildung 14 ist in dem schon zitierten Bericht ebenfalls veröffentlicht worden (2, S. 69) ("Aufnahme Hanno von Kemnitz"). Es wird in dem Bericht folgendermaßen erläutert (2, S. 60 - 71):
Die öffentliche Feier durch die Huldigung der Wehrmacht des Reiches begann um 11 Uhr. (...) Pünktlich trafen die Herren Reichswehrminister v. Blomberg und der Chef der Heeresleitung General d. Art. v. Fritsch am Hause des Feldherrn ein. Major v. Treuenfeld, der im Großen Hauptquartier gewesen und für diesen Tag wieder Adjutant des Feldherrn war, empfing sie und geleitete sie in das Haus. Dort stand der Feldherr in der Uniform, die er im Weltkriege getragen hatte, geschmückt mit den höchsten Kriegsorden der Länder des Deutschen Vaterlandes in seinem Arbeitsraum (...). In der jugendlichen Frische eines Fünfzigjährigen empfing er an seinem 70. Geburttag in tiefer Bewegung die Vertreter der Deutschen Wehrmacht, mit der er nun endlich wieder geeinigt war.
Abb.: Ein Mann mit Blumenstrauß neben dem Ehrenposten (aus einer privaten Bildserie, Herkunft: Ebay, Oktober 2014)

Dass man aufgrund der Jugendlichkeit des Generals noch mit einem langen Leben seinerseits - und damit mit ihm überhaupt - rechnen müsse, mehr als mit einem greisen von Hindenburg, konnte - und sollte sicherlich - als ein Signal gegenüber dem Diktator selbst und seiner Umgebung verstanden werden. So auch das folgende:
Niemand von den Wenigen, die von dem Nebenraume aus diesen feierlichen Augenblick miterleben durften, wird ihn je vergessen. Die kurzen Worte der Ehrung, die der Reichwehrminister v. Blomberg in der Öffentlichkeit am 17. März gesprochen hatte, lagen auf seinen Zügen und auf denen des Chefs der Heeresleitung, als sie in diesem feierlichen Augenblicke dem großen Feldherrn gegenüberstanden.
(...) Ganz so, wie in den Vorzeiten unseres Volkes, als jedes Wort noch schweres Gewicht hatte, sprach der Reichswehrminister, jedem Worte seine Nachwirkung lassend, mit feierlicher Gemessenheit.
Abb.: Mathilde Ludendorff mit Enkelsohn und General Bronsart von Schellendorf schreiten am Ehrenposten vorbei, offenbar auf dem Weg zur Besichtigung der Ehrenformation (aus einer privaten Bildserie, Herkunft: Ebay, Oktober 2014)

Dann begaben sich die Anwesenden nach draußen (Abb. 6) zum Abschreiten der Ehrenkompanie (Abb. 7 - 9):
Der Feldherr begrüßte die auf dem rechten Flügel der Ehrenkompagnie stehenden unmittelbaren Vorgesetzten derselben, darunter als ersten Generalleutnant Adam, den Befehlshaber des Wehrkreiskommandos 5, Generalleutnant Eberth, dessen Geschwader in der Luft kreiste. (...)
Nach dem Abschreiten der Ehrenkompanie wurde ihr Vorbeimarsch abgenommen. Dann ...
... begaben sich der Feldherr und seine Gäste wieder in sein Haus zurück. Er hatte hierhin auch die Vorgesetzten der Kompagnie und des Flugzeuggeschwaders gebeten. (...) Die Regimentsmusik (...) trug (...) den Preußischen Präsentiermarsch, das Vorspiel aus den Meistersingern, das der Feldherr so oft bei feierlichen Gelegenheiten in Berlin in Gegenwart des Kaisers gehört hatte und den Hohenfriedberger Marsch vor.

Hier sei einmal ein Tonbeispiel des Vorspiels zu den Meistersingern eingestellt (Yt.) Während dieses Ständchens wird dann auch das Foto aus Abbildung 18 entstanden sein.

Abb.: Mathilde Ludendorff mit Enkelsohn, General Bronsart von Schellendorf und im Hintergrund Frieda Stahl (?) (wohl) auf dem Weg zur Besichtigung der Ehrenformation (aus einer privaten Bildserie, Herkunft: Ebay, Oktober 2014)

Auf ihm sieht man, wenn man es mit dem damit verbundenen Text (2) abgleicht, von links nach rechts: 1. die Hausherrin Mathilde Ludendorff, 2. "Geburtstagskind" Erich Ludendorff, 3. der Chef der Heeresleitung Generaloberst Werner von Fritsch, 4. Generalleutnant Franz Halder (Besuch erwähnt in späterem Beitrag), 5. ... , 6. der Reichswehrminister Generaloberst Werner von Blomberg, 7. ...  und 8. Generalleutnant Bronsart von Schellendorff. Der letztere war ein Freund Ludendorffs seit Jugendtagen und Nachfolger Hierls als Leiter des Tannenbergbundes gewesen. Außerdem dürften sich auf dem Foto finden wie angeführt Generalleutnant Wilhelm Adam, der Befehlshaber des Wehrkreiskommandos in München (wohl 5.), Generalleutnant Karl Eberth, Befehlshaber des Luftkreiskommandos 5 (wohl 7.), sowie der unmittelbare Vorgesetzte der gestellten Ehrenkompanie.

Weiter heißt es in dem Bericht:
Nachdem die letzten Klänge verrauscht waren, verabschiedeten sich die Offiziere bis auf die Generale v. Blomberg und Fritsch von dem Feldherrn und seiner Gattin. (...)
In kleinstem Kreise hatten dann der Feldherr und seine Gattin noch die Freude, den Herrn Reichswehrminister und den Herrn Chef der Heeresleitung zu einem Frühstück bei sich zu sehen und mit ihnen wertvolle Erinnerungen und Gedanken auszutauschen.
Um 1 Uhr 30 verließen die Herren das Haus.
Damit ist aber nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Bericht von dieser Feier des 70. Geburtstages Erich Ludendorffs gegeben. Insbesondere sprach Ludendorff auch während der Anwesenheit der beiden höchsten Offiziere des Deutschen Reiches zu den im Garten versammelten Anhängern seiner Weltanschauung, denen er auch die übrige Zeit seines Geburtstages widmete. Nachmittags weilten Offiziere des alten Heeres bei Ludendorff.

Kronprinz Wilhelm begeistert von der Philosophie Mathilde Ludendorffs

Abb.: Kronprinz Wilhelm mit Enkelkind, 1934

Was in keinem öffentlichen Bericht erwähnt wurde, ist die Tatsache, daß unter den Besuchern des Nachmittages sich auch der Kronprinz Wilhelm befand, der seinen Besuch bis in die späten Abendstunden hinein ausdehnte, wie Ludendorff in seinen Lebenserinnerungen berichtet, und Kriegserinnerungen mit Ludendorff austauschte. Unmittelbar nach seinem Besuch sollte er sich in einem Brief an seinen Vater, den abgedankten Kaiser in Doorn in den Niederlanden begeistert über die Philosophie von Mathilde Ludendorff äußern (Stud. Nat., 04/2015). Das geht aus Aufzeichnungen von Sigurd von Ilsemann hervor, der bis 1941 in der Nähe des Kaisers in Holland lebte. Er schrieb am 27. April 1935 in sein Tagebuch:
Der Kronprinz hat seinem Vater jetzt nach seinem Besuch bei Ludendorff begeistert von diesem Ehepaar und ihrer vernünftigen Religion geschrieben, die allerdings nur für wenige sehr Gebildete geeignet sei.
Ein Umstand, der Mathilde Ludendorff selbst so deutlich offenbar nie bekannt geworden ist. Doch betonte auch sie - noch anlässlich des Todes des Kronprinzen 1951 - das herzliche Verhältnis, das der Kronprinz Ludendorff gegenüber zeitlebens einnahm und nach dem Tod Erich Ludendorffs auch auf sie als seiner Witwe übertrug (Stud. Nat., 04/2015).

Die Festrede von General Ludwig Beck im Radio

General Ludwig Beck hatte an diesem Besuch vom 9. April 1935 nicht teilgenommen. In dem genannten Bericht heißt es aber weiter (2, S. 73f):
Es war Abend geworden, als auch diese Feier (mit den Offizieren des alten Heeres) ihren Abschluss gefunden hatte. Nur wenige Minuten gehörte der Feldherr dann seiner Familie, ehe er sich die Übertragung der Festrede, die der Chef des Truppenamtes, Generalleutnant v. Beck, am Deutschlandsender hielt, anhörte. Ernst lauschte der Feldherr den Worten des Kameraden, die in so wundervoller, militärisch gedrängter, aber plastischer, prägnanter Sprache die gewaltige Leistung des Feldherrn vor und während des Weltkrieges dem gesamten Volke anschaulich machte. Es war ergreifend, den tiefen Ernst zu sehen, mit dem der Feldherr den Worten lauschte und immer dann beifällig nickte, wenn wieder einmal die Kriegslage und Leistung durch die Wortgestaltung des Generals der jungen Wehrmacht den Nagel auf den Kopf traf. Und eben deshalb, weil hier Wahrheit in markiger und schlichter Sprache an des Feldherrn Ohr drang, war ihm, wie er aussprach, diese Festrede ein so schöner Höhepunkt der Feier.
Feierstunde in München
Abb. 21: "Eintrittskarte zur Feierstunde (...) in der Tonhalle zu München"
Es gibt auch (Abb. 21) Eintrittskarten
zur Feierstunde zum 70. Geburttag des Feldherrn Erich Ludendorff  (...) nachmittags 5 Uhr in der Tonhalle zu München.
Diese ist wohl ohne den zu Feiernden, also ohne Erich Ludendorff, veranstaltet worden.

Abb.: Liederblatt, verteilt für die "Feierstunde" in der Tonhalle in München

Die Eintrittskarte Nummer 0011 für RM 0.80 wurde aufgehoben zusammen mit dem offenbar dort verteilten Liedblatt (Ebay-Angebot, November 2015). Auf diesem Liedblatt sind zwei Liedtexte abgedruckt, nämlich "das Lieblingslied des Feldherrn" "Ich hab mich ergeben". Dieses Lied wurde 1949 auch anlässlich der Verabschiedung des deutschen Grundgesetzes anstelle einer Nationalhymne gesungen. Außerdem das von Erich Ludendorff selbst gedichtete "Kampflied der Deutschen Abwehr". Es handelt sich um ein Lied gegen den Jesuitenorden nach der feierlichen Melodie des "Altniederländischen Dankgebetes", die bis heute einen Teil des militärischen Zapfenstreiches bildet ("Wir treten zum Beten"). Ludendorffs Wortlaut:
Der Schwarze, die Deutschen zu Falle zu bringen,
schleicht hassend und trugvoll durchs arglose Reich
und suchet durch List die Gewalt zu erringen
und Freie zu fällen mit tödlichem Streich.
Ausharret und kämpfet im härtesten Streite,
mit Schanden in Banden des Schwarzen nicht fallt!
Der Tapfere zwingt sich den Frevler zur Beute
zur Rettung des Volkes aus Pfaffengewalt.
Vertraut nur euch selber, hofft nichts von Gebeten,
den Würger vertreibt allein tatfrohe Kraft.
Den Stolzen und Starken, von Schleichern getreten,
entflammet der Zorn, der jetzt Freiheit uns schafft!
Man mag es bemerkenswert finden, dass dieses Lied offenbar im April 1935 in München in öffentlicher Versammlung gesungen wurde und werden konnte.

"Ich habe dem Feldherrn heute persönlich die Hand gedrückt ..."

Abb.: Postkarte, 1935

Ein kurioses Zeitzeugnis jenes Tages aus der Ludendorff-Anhängerschaft ist im Handel mit historischen Postkarten aufgetaucht. Eine in Berlin aus Anlass dieses Tages vom Berliner Verlag Schubert & Co./Verlags-G. m. b. H. gedruckte Postkarte, die sicherlich sehr selten ist. (Dieser Verlag gab technische Schriften heraus, die in der "Elektrotechnischen Zeitschrift" besprochen wurden.) Die Postkarte trägt auf der Vorderseite in Fraktur Worte eines sonst nicht bekannten Menschen namens Walter Pfleger:
9. Ostermonds 1935.
Zum 70. Geburtstage des Feldherrn des Weltkrieges!
Nicht Worte genug, zu künden seiner Taten Zahl,
.. im Kampfe um des Reiches Bestand,
um die Freiheit der Deutschen Seele!
Deutscher! Es gibt für dich keine andere Wahl,
willst frei du sein .. und dich wieder erheben zur Größe! 
Abb.: Rückseite der Postkarte, 1935

Diese Karte ist auf der Rückseite handschriftlich offenbar von einem Herrn Eggert an seine Tochter in Berlin gerichtet:
Frl. Lieselotte Eggert
bei Herrn Postrat (?) Schmitt
Berlin-Steglitz, Wrangelstr. 10 II
München-Tutzing, 9.4.35.
Liebe Lotte! Ich habe dem Feldherrn heute persönlich die Hand gedrückt zu seinem 70. Geburtstage. Das heutige Ereignis werde ich nie vergessen. Herzlichen Gruß und Kuß! Dein Vater
Grüße Familie Schmitt. Morgen Heimfahrt.
Ludwig Becks monatelanges, fast tägliches geduldiges Bemühen um Ludendorff (1935)

In der Folgezeit war es nun vor allem General Ludwig Beck, der zu jenen innerhalb der Wehrmachtführung gehörte, die sich am intensivsten um Ludendorff bemühten. Der Historiker Klaus-Jürgen Müller hat für seine wissenschaftliche Biographie (1) erstmals sehr gründlich den Nachlaß eines Obersten Robert Holtzmann ausgewertet, der im Bundesarchiv in Koblenz aufbewahrt wird. Robert Holtzmann, ein früherer Landesleiter Norddeutschland des Tannenbergbundes, wohnte in den 1930er Jahren in Berlin und fungierte als der "Verbindungsmann" zwischen General Ludwig Beck in Berlin und dem pensionierten General Ludendorff in Tutzing. Wie aussagekräftig dieser Nachlass ist, ist von Klaus-Jürgen Müller zum ersten mal in vollem Umfang herausgearbeitet worden.*)


Abb. 5: Robert Holtzmann - ganz rechts - auf der Landesverbandstagung des Tannenbergbundes am 3. und 4.12.1932 neben Erich und Mathilde Ludendorff

Die Auswertung dieses Nachlasses bezüglich der Kontakte zwischen Ludwig Beck und Erich Ludendorff ergibt - so der Autor der Beck-Biographie -, dass Beck vom Frühjahr 1935 bis Anfang 1936
"monatelang, zum Teil täglich, in der Ludendorff-Sache tätig"
gewesen ist, dass hier ein
"langes, geduldiges Bemühen um Ludendorff"
vorlag (1, S. 157). Klaus-Jürgen Müller spricht von dem "umfangreichen Briefwechsel zwischen Ludendorff und seinem Beauftragten Holtzmann". Dieses Bemühen hat sich dann letztlich als gescheitert erwiesen. In ihm spiegeln sich aber doch sehr gut die Interessen aller Beteiligten wieder. 

Abb. 22: Fritsch und Beck, Manöver (1937)
Angestrebt war von seiten der Wehrmachtführung, so Autor Müller, Ludendorff "als eine Art Ersatz-Hindenburg" "vor den Wagen der Wehrmacht zu spannen". Auch gegen Hitler, auch bei dem Anstreben einer Militärdiktatur, also bei einem Staatsstreich gegen Hitler. Dazu ließen sich noch viele Details aus dieser neuen Biographie anführen. (- Rechts im Bild, Abb. 22, die Generäle von Fritsch und Beck während eines Wehrmacht-Manövers im Sommer 1937.)

Ludwig Beck hat die persönliche Widmung, die Erich Ludendorff in das Exemplar seines Buches "Mein militärischer Werdegang" für Ludwig Beck geschrieben hatte, noch mehrmals später in eigenen militärischen Studien zitiert und sich damit zueigen gemacht. Auch sonst geht aus vielem hervor, dass Ludwig Beck sich zumindest bemüht hat, sich in die militärischen - aber auch in die weltanschaulichen und politischen - Gedankengänge Erich Ludendorffs hineinzufinden.

Dass er allerdings so von der Philosophie Mathilde Ludendorffs begeistert worden wäre wie der deutsche Kronprinz, dafür gibt es einstweilen kein Zeugnis.

Staatsstreich der Wehrmacht: Mit Ludendorff gegen Hitler?

Mehrmals bezieht sich die Biographie - und damit wohl ebenfalls erstmals in der Forschung - auf die eidesstattliche Erklärung von Mathilde Ludendorff nach dem Zweiten Weltkrieg über die Kontakte Erich Ludendorffs zu den Generälen. Und die Biographie betont, dass die inhaltliche Aussage dieser eidesstattlichen Erklärung nicht im Widerspruch steht zu dem, was sonst über das Verhältnis zwischen Ludendorff und der Wehrmachtsgeneralität bekannt geworden ist. Diese eidesstattliche Erklärung benennt jedoch vieles noch deutlicher und konkreter, als es aus den sonstigen, überkommenen schriftlichen Zeugnissen hervorgeht oder auch nur hervorgehen konnte.

General von Fritsch fragte anlässlich eines weiteren persönlichen Besuches in Tutzing am 11. Februar 1936 Ludendorff, ob dieser denn nicht seinen weltanschaulichen Kampf einstellen könne. Also seinen Aufklärungskampf gegen die von ihm so genannten "überstaatlichen Mächte" und für die nichtchristliche, am Evolutionsgedanken orientierte Philosophie seiner Frau Mathilde Ludendorff. Wer sich mit diesem weltanschaulichen Kampf und mit der Person Erich Ludendorff nur ein wenig beschäftigt hat, muss sich schon von vornherein über die Naivität dieser Frage von Seiten des Generals von Fritsch wundern. Allerdings konnte ein pensionierter General unter den Verhältnissen des Dritten Reiches eine solche Frage von seiten eines sich in einer Machtstellung befindlichen Generals auch als eine Drohung empfinden. Ludendorff jedenfalls scheint gerade auch solche Fragen deutlich gemacht zu haben, dass er seine bis dahin immer intensiver werdenden Beziehungen zu den Wehrmacht-Generälen baldmöglichst beenden müsse.

Ludendorff lehnt "Verantwortung ohne Macht" ab

Im Grunde hatte von Fritsch an Ludendorff die Forderung gestellt, sein sehr energisch vertretenes Recht auf Meinungsfreiheit innerhalb der NS-Diktatur nicht mehr weiter in Anspruch zu nehmen. Mathilde Ludendorff sagte zu Robert Holtzmann laut Tagebuch-Eintrag desselben nach dem Besuch Ludwig Becks in Tutzing im Dezember 1935:
"Sorgen Sie dafür, dass mein Mann nicht hineingezogen wird. Jetzt soll er nur wieder vor den Wagen der Wehrmacht gespannt werden, damit es wieder heißen kann: Alle Schuld auf Ludendorff. So wie 1918, 1920, 1923, so auch jetzt wieder!"
Ludendorff lehnte, wie er Holtzmann sagte, "Verantwortung ohne Macht" ab. Weitere Ausschnitte aus dem Holtzmann-Nachlass wie sie in den Anmerkungen zitiert werden, zeigen, dass dieser Nachlass noch vieles weitere, bislang Unveröffentlichte enthalten könnte, das sich als geschichtlich bedeutsam erweisen könnte. Etwa Anmerkung 217: Am 29. 11. 1935 schrieb Robert Holtzmann an Erich Ludendorff,
General Beck werde sich für das Buch "Der totale Krieg" bei Blomberg kaum verwenden. Er habe geäußert, er selbst habe das Buch zwar mit größtem Interesse gelesen, es sei hervorragend und glänzend, die gesamten Ausführungen seien ideal gedacht, aber "es sei eben alles von der überragenden Warte eines Ludendorff aus gesehen und auf ihn zugeschnitten".
So schreibt ein Beck, der sich in einem kommenden Krieg als ein Nachfolger Ludendorffs ansehen musste. Im Januar 1936, als jene Durchbruch-Strategien, die in den Anfangsjahren des Zweiten Weltkrieges dann tatsächlich verwirklicht werden sollten, in den Planungsstäben der Wehrmacht durchdacht wurden, sagte Beck über seinen Vorgänger Ludendorff aus dem Ersten Weltkrieg noch deutlicher (1, S. 611, Anm. 218):
"General Ludendorff ist uns hundert Kilometer voraus und nun verlangt er, wir sollten mit ihm Schritt halten."
Beck bezog dieses "hundert Kilometer voraus" sicher auf die in damaligen Büchern, in Ansprachen und in persönlichen Gesprächen geäußerten Ansichten Ludendorffs über die aktuellen politischen, militärpolitischen und nicht zuletzt auch weltanschaulichen Fragen. Fragen der Weltanschauung sah Ludendorff in einem Maße in Zusammenhang stehen mit politischen und militärpolitischen Fragen, wie das wohl nur von wenigen Militärs zuvor oder nachher getan worden ist. Schon allein sein Kirchenaustritt bewies dies ja aller Welt. Damit kamen seine militärischen "Standesgenossen" noch 1936 letztlich gar nicht zurecht. Obwohl hinwiederum das Beispiel des deutschen Kronprinzen zeigt, dass man auch unter solchen "konservativen Knochen" einige geistige Aufgeschlossenheit nicht völlig unrealistischerweise hat voraussetzen können.

Die Wehrmacht wird bald "die abgelehnteste Einrichtung im ganzen Deutschen Reich sein" - Ludendorff 1936

Bis zur Veröffentlichung und Neuveröffentlichung der Beck-Biographie war auch die folgende prophetische Äußerung Ludendorffs aus dem Februar 1936 unbekannt geblieben (1, S. 168):
"Die Wehrmacht sei eben ein Hort 'christlicher Reaktion'. Sie werde, so prophezeite er, daher bald 'die abgelehnteste Einrichtung im ganzen Deutschen Reich sein und die gleiche Ablehnung erfahren, wie es heute oft der regierenden Partei passiert. Die Wehrmacht verdient diese Ablehnung nicht unverdient. Ich habe jedenfalls einen Schlussstrich der Wehrmacht gegenüber gezogen'."
Man möchte diesen Satz fast zu jenen prophetischen Aussprüchen Erich Ludendorffs rechnen, von denen es noch mehrere weitere gibt. Denn das ist doch eigentlich genau jene Perspektive auf die Wehrmacht, wie sie die Mehrheit der deutschen Historikerschaft mit mancherlei Berechtigung heute ebenfalls eingenommen hat. Nämlich dass das bigotte Christentum, das viele führende Generäle pflegten, ihnen keine ausreichende Kraft gab, sich gegen die Diktatur des Dritten Reiches in einem Staatsstreich aufzulehnen. Ludendorffs diesbezügliche "Prophetie" hat sich schlichtweg bewahrheitet: Die deutsche Wehrmacht erfährt in der heutigen deutschen Öffentlichkeit tatsächlich fast die gleiche Ablehnung, wie die damals regierende Partei. Tatsächlich erkennt die Geschichtswissenschaft nach einem Generationen-Wechsel unter der Historikerschaft immer besser, wie sehr die Wehrmacht eben vor wie nach 1933, vor wie nach 1939 nicht genügend Widerstand geleistet hat gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen, und wie wenig sie sich auch als immun erwiesen hat gegenüber der Beeinflussung durch die nationalsozialistische Mordmoral.

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*) Im Bundesarchiv Koblenz liegt laut Nachlassdatenbank der "Teilnachlaß 2" vor, die Jahre nach 1934 betreffend. Der Holtzmann-Nachlaß, der die Jahre vor 1934 betrifft, liegt an der Stanford-Universität in Kalifornien in der "Hoover Institution" (einer amerikanisch-konservativen "Gedankenschmiede" ["Think-Tank"]). Eine Übersicht über die Bestände (pdf.) zeigt die große Zahl der Briefpartner Holtzmanns auf, etwa: Blomberg (1935, 1936), Bormann (1935), Fritsch (1932, 1934), Goebbels (1933), Heß (1935), Himmler (1936). Außerdem engere Mitarbeiter Erich Ludendorffs wie Walter Löhde (1935), Bronsart von Schellendorf (bis 1932), Robert Schneider (1936) und viele andere mehr.

(Erster Entwurf 14.10.2009; letzte Einfügungen: 30.8., 12.9.2014, 27.11.2015)

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  1. Müller, Klaus-Jürgen: Generaloberst Ludwig Beck. Eine Biographie. Hrsg. mit Unterstützung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Potsdam. Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2008, 2. durchgesehene Auflage 2009
  2. o. N. (wohl Mathilde Ludendorff): Des Feldherrn 70. Geburttag. Der Verlauf der Feier. In: Quell, 6. Jg. Folge 2, 20.4.1935, S. 52 - 74 (Scribd)
  3. Katta, Peter: SA Düsseldorf (Brigade 75). Auf: AxisHistory-Forum, 11.4.2007
  4. Wallraff, Horst: Friedrich Karl Florian (1894-1975), Gauleiter der NSDAP. Auf: Rheinische-Geschichte [8.1.12]
  5. historicimages-store: 1935 Press Photo Picture Erich Ludendorff April Day Few. Ebay-Angebot für 8 US-Dollar, Ablauf am 15. August 2012
  6. Tuohy, Ferdinand: Ludendorff Re-Emerges. In: The Sphere (UK weekly news magazine). A 1937 issue. Ebay-Angebot für 8,99 britische Pfund von "devonian35", [18. Juli 2012]
  7. Nebelin, Manfred; Blasius, Rainer A.: Stratege in eigener Sache. In: FAZ, 20.12.2012
  8. Müller, Klaus-Jürgen: General Ludwig Beck. Studien und Dokumente zur politisch-militäri­schen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933- 1938, Boppard a. Rhein 1980 (= Schriften des Bundesarchivs Bd. 30)