Donnerstag, 20. September 2012

Berlin-Neukölln - Im April 1945 verteidigt von französischer Waffen-SS

Ein Buch des französischen Schriftstellers und Militärhistorikers Jean Mabire (1927 - 2006)

Es ist nicht ganz einfach, Literatur über die letzten Kämpfe in Berlin im April 1945 zu finden. Zumindest solche, die auch möglichst dicht am Geschehen vor Ort dran ist. Für diese ist das Interesse dieses Blogs gewachsen, seit die Geschichte des Dienstgebäudes des Großen Generalstabes in Berlin erarbeitet worden ist und man dabei auch auf die Rolle gestoßen ist, die daselbe in den Endkämpfen 1945 im Bezirk Tiergarten gespielt hat (GA-j!, März 2012). Seine Rolle manifestiert sich zum Beispiel dadurch, daß vor diesem Gebäude haufenweise russische Panzer abgeschossen worden waren, die über die Moltkebrücke vorgedrungen waren (siehe dort). Wie aber, so fragt man sich, haben die Soldaten selbst diese Kämpfe erlebt?

Viele militärgeschichtliche Bücher, die zwischenzeitlich zu diesem Thema eingesehen worden sind, behandeln diese Kämpfe eher oberflächlich.*) Auf einem militärgeschichtlichen Forum irgendwo im Netz wurde auf ein Buch eines Jean Mabire über die französische Freiwilligen-Division der Waffen SS "Charlemagne" (Wiki) hingewiesen (1). Das hatten wir im Hinterkopf behalten. Und nun hält man es in Händen. UInd es läßt einen nicht mehr los.


Abb. 1: Französische Freiwillige der Waffen-SS, Oktober 1943

Wie präzise die Vorgänge innerhalb dieser Division im Frühjahr 1945 geschildert werden. Die schweren Kämpfe in Pommern und der Ausbruch aus dem Kessel in Pommern, wobei ein Regiment fast vollständig auf freiem Feld von russischen Einheiten aller Waffengattungen zusammengeschossen worden ist. Und wobei sich die übrigen Einheiten nur in mühevollen Nachtmärschen über die Oder retten konnten.

Auch das Denken und die Haltung der überlebenden Soldaten innerhalb dieser Division ist recht genau geschildert. Sowohl derer, die Anfang April 1945 freiwillig auf Weiterkampf verzichteten und sich in Baubataillione eingliedern ließen (etwa 400), wie derer, die freiwillig weiterkämpften (etwa 600), und die sich selbst bewußt waren, wie "absurd" ihr Verhalten in den Augen so vieler erscheinen mußte. Schließlich war ihr Heimatland Frankreich zu diesem Zeitpunkt schon von westalliierten Truppen besetzt.

Noch auf der Fahrt in den Einsatz (von Mecklenburg nach Berlin hinein) tippten sich viele - zumindest nach der Schilderung von Mabire - mit dem Zeigefinger - halb belustigt, halb kopfschüttelnd - auf die eigene Stirne. Sie begegneten auf der Straße übrigens Heinrich Himmler, der gerade von Seperatfriedensverhandlungen mit dem Grafen Bernadotte zurückkehrte und nur müde aus seinem Wagen heraus grüßte.

Die ersten französischen Freiwilligen waren von der Regierung Petain 1941 nach Rußland geschickt worden als reguläre Truppenteile des mit Deutschland verbündeten französischen Staates. Andere Franzosen haben in verschiedenen anderen Einheiten Dienst geleistet. Sie wurden alle schließlich 1944 in der Divsion Charlemagne gesammelt. Es gab ältere Soldaten, die französisch-patriotisch eingestellt waren. Viele jüngere Soldaten aber waren auf den insbesondere von der Waffen-SS propagierten europäischen Gedanken eingeschworen, was sich auch darin zeigte, daß sie ihre Soldatenlieder auf Deutsch sangen.

Berlin-Neukölln und die Waffen-SS-Division "Charlemagne"

Als letzte größere militärische Einheit schlüpfen die Angehörigen dieser Division von Westen her in den Einschließungsring von Berlin hinein. Sie übernachten im Wald am Spreeufer in der Nähe des Olympiastadions. Und sie werden dann nach Neukölln zum Einsatz geführt. Der Stadtteil Neukölln steht in den nächsten Tagen im Mittelpunkt der Kämpfe dieser Division, deren in Berlin im Kampf stehende Teile im April 1945 nur noch ein Regiment ausmachen. Links von dem Regiment Charlemagne waren dänische SS-Einheiten der Division "Nordland" eingesetzt. Das Rathaus Neukölln bildete den Gefechtsstand des Regimentes. Die Soldaten verteidigten Teile des Flughafens Tempelhof und die angrenzenden Friedhöfe rund um die Hasenheide. Rückwärtige Sammelstelle war der Hermannsplatz, wo sich auch eine Sanitätsstelle befand. Das Rathaus Neukölln wurde am 26. April 1945 bis zum äußersten von den Franzosen verteidigt.

Mit seinen Kämpfen und Gefallenen hat sich diese Division Charlemagne - so weiß man es nach der Lektüre dieses Buches - tief in die Geschichte des Stadtteiles Berlin-Neukölln eingegraben. Und man sieht die Straßen Neuköllns zwischen Hermannsplatz und Rathaus und darüber hinaus nach der Lektüre dieses Buches anders als zuvor. Dieser Stadtteil, der heute als einer der klassischsten, von türkischen Migranten bewohnten Stadtteile Deutschlands gilt. 1945 ließen sich junge französische Nationalsozialisten in der Verteidigung dieses Stadtteiles durch Granatbeschuß die Gedärme zerfetzen  und setzten ihr Leben für ihn ein.

Granatvolltreffer töteten gleich zu Anfang und auch später noch mehrfach gleich mehrere Soldaten des Regimentes auf einmal. Die Rote Armee überschüttete die deutschen Verteidiger mit einer ungeheuer starken Massierung von Artilleriebeschuß (s. Abb. 2 und 4).

Viele der französischen Soldaten hofften auf die "Wunderwaffe". Andere konnten nicht glauben, daß die Amerikaner an der Elbe stehen bleiben würden und den Russen Berlin überlassen würden. Und so redete sich jeder einen etwas anderen Sinn ein, den dieser Kampf noch haben könnte.

Abb. 2: Stalinorgeln in Berlin, 1945

Kennzeichnend ist auch das Wort eines weiterkämpfenden Kameraden zu einem zum Baubataillon übertretenden Kameraden: "Wenn die Deutschen in Paris wären, würdet Ihr bessere Nationalsozialisten sein wollen als wir." (1, S. 99) Das heißt: Diejenigen, die weiterkämpften, wollten einfach geradlinig bleiben in ihrem Verhalten. Sie wollten nicht plötzlich kneifen, wenn es mal nicht so gut lief mit dem, was sie als ihre eigenen Überzeugungen erachteten.

Warum meldeten sich Franzosen noch 1945 freiwillig?

Diese Einstellung ist es wohl, die sich Mabire so viel Mühe gibt, möglichst präzise zu beschreiben. Und die Tatsache, daß er dieselbe so präzise beschreibt, ist wohl der Grund dafür, daß man sein Buch so schwer aus der Hand legen kann. Für eine Sache sein Leben einzusetzen, wenn ein Erfolg absehbar ist, ist - wohl - noch verhältnismäßig leicht. Aber der Einsatz des eigenen Lebens in Fällen, wo andere einen, wenn sie könnten, nur noch als "Kriegsverlängerer" beschimpfen würden, die sich "verheizen" lassen würden - oder gar Schlimmeres, ist sicherlich noch einmal etwas ganz anderes.


Abb. 3: Russische Soldaten im Häuserkampf in Berlin, April 1945

Aber darum ging es diesen zumeist nur 20 Jahre alten Soldaten der Waffen-SS schon lange nicht mehr. Wer sich Anfang April 1945 als Franzose, der den Kampf um Pommern überlebt hatte, zum Weiterkampf entschloß, obwohl er jederzeit auch anders könnte (- anders übrigens als die damals eingesetzten deutschen Soldaten, die sich nicht so einfach zu Baubataillonen "abmelden" konnten) - nach all den Erfahrungen, die diese Soldaten in den letzten Monaten und Jahren seit 1941 an der Ostfront hatten sammeln können, der mußte mehr oder weniger mit seinem Leben innerlich abgeschlossen haben. Und der mußte zu allem entschlossen sein. Er mußte gefaßt sein auf vieles. Und der war auch auf vieles gefaßt.

Der zweite Einsatzort des Regimentes Charlemagne war dann der Nordrand des Belle-Alliance-Platzes (heute der Mehring-Platz am Halleschen Tor) (1, S. 282). Von dort zogen sich die Einheiten vom 28. April bis 2. Mai schwer kämpfend zurück zunächst auf die Hedemannstraße (sie heißt noch heute so), dann auf die Puttkammerstraße, dann auf das Prinz-Albrecht-Palais (die Gestapo-Zentrale) in der Anhalterstraße. Und schließlich auf das Luftfahrtministerium von Hermann Göring in der damaligen Prinz-Albrecht-Straße (heute Niederkirchnerstraße).

Dabei kam es immer wieder zu schweren Häuserkämpfen. Man schoß aus dem ersten Stockwerk heraus, man schoß aus dem Keller heraus, man schoß vom Dach herunter. Man warf Handgranaten und schoß immer wieder russische Panzer mit der Panzerfaust ab. Diese waren in den engen Straßen zwar zunächst beängstigend für die Verteidiger aber dennoch so gut wie chancenlos. Sie wurden dennoch immer wieder - obwohl sich die russischen Panzerbesatzungen oft weigerten, diese Selbstmordkommandos auszuführen - nach vorne geschickt. Deshalb auch die hohen Abschußzahlen, für die auf deutscher Seite noch in den Endtagen Ritterkreuze und Eiserne Kreuze verliehen wurden. Mitunter mußten die Panzer aber auf so nahe Entfernung hin abgeschossen werden, daß der Panzerfaust-Schütze selbst von der Explosion des Panzers getötet wurde.


Abb. 4: Sowjetische Artillerie vor Berlin, April 1945

Die Soldaten wurden mitunter auch von einstürzenden Gebäudeteilen verschüttet und kamen dabei ums Leben oder nur schwer verletzt wieder heraus. Schwer war es für verwundete Soldaten, aus der Kampfzone zu kommen und sich in den Häuserruinen zurecht zu finden. Oft war gar nicht klar, ob bestimmte Häuser schon von den Gegnern besetzt waren oder zur eigenen Seite gehörten. Zu zuständigen Lazarette, wo man einigermaßen versorgt wurde, wurde man dann in den Führerbunker der Reichskanzlei, in den Luftschutzbunker des Hotels Adlon und in die U-Bahnstationen der Friedrichstraße getragen, geführt oder geschickt.

Mit diesen Worten seien nur wenige Inhalte angedeutet. Die beigegebenen Abbildungen ergänzen vieles. Man ist erstaunt, wieviele Fotos aus diesen letzten Kämpfen auf verschiedenen militärgeschichtlichen Foren im Internet zusammengetragen werden. In diesem Beitrag können davon nur wenige gebracht werden.

Auch die Schicksale der Soldaten, die bis zur Kapitulation überlebten, waren sehr unterschiedlich. Von einem wird berichtet, daß ihn ein russischer Soldat aus der Gefangenenkolonne herausholte und einfach erschoß. Viele wurden nach ihrer Heimkehr nach Frankreich zu vieljähriger Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie sich als Freiwillige gemeldet hatten. In Bad Reichenhall wurden zwölf Angehörige dieser Division, wie Mabire berichtet, von französischen Einheiten ohne jedes kriegsgerichtliche Verfahren erschossen. Der französische General Jacques-Philippe Leclerc (1902-1947)(Wiki) schnautzte sie an: "Schämt Ihr Euch nicht, deutsche Uniformen zu tragen?" Sie antworteten: "Sie tragen doch mit ihrer amerikanischen Uniform auch keine französische." Dieser Trotz scheint den General so zornig gemacht zu haben, daß er die zwölf kurzerhand erschießen ließ. (Das englischsprachige und das französischsprachige Wikipedia sind zu diesem Vorfall viel ausführlicher und ganz neutral. Im Gegensatz zu dem gegenwärtigen deutschsprachigen, das diese Geschehnisse nur mit einem Satz berührt, nach dem es bloß "Revisionisten" wären, die diese Ereginisse dem General vorwerfen!!!)


Abb. 5: Schützenpanzerwagen der dänischen Waffen-SS ("Nordland") in der Friedrichstraße, 2. Mai 1945

Wer war der Autor Jean Mabire?

Während des Lesens des hier behandelten Buches beginnt man auch nach dem Autor desselben zu fragen. Einem Autor, der fähig ist, allen Beteiligten an diesem Geschehen - wie immer sie sich auch verhalten haben - volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der aber vor allem auch den Geist und das Denken unter den zumeist 20-jährigen Freiwilligen innerhalb dieser französischen Waffen-SS-Division im April 1945 so präzise zu beschreiben weiß, daß die "Absurdität" derselben ebenso deutlich zutage tritt, wie jene schon genannte selbst empfundene Geradlinigkeit.

Von einem dieser Freiwilligen sagt er, er sei der Waffen-SS beigetreten, wie man einer Religionsgemeinschaft beitritt. - - - Solche Sätze hatte man zuvor über die Waffen-SS noch nicht gelesen. Oder waren sie einem nur nicht aufgefallen? Aber sie scheinen doch zu passen. Läßt Mabire doch an anderen Stellen erkennen, daß er vor allem auch den in dieser Division kämpfenden Nichtchristen, "Neuheiden" volle Gerechtigkeit widerfahren läßt. Als ihnen bei der Neuaufstellung nach den Kämpfen in Pommern Wehrmacht-Koppelschlösser übersandt werden mit der Aufschrift "Gott mit uns!", tragen sie dieselben nicht, da dieser Spruch nicht zu ihrer Truppe passen würde. Und sie setzen sich damit durch. Erst als sie Koppelschlösser mit dem SS-Spruch "Unsere Ehre heißt Treue" erhalten, tragen sie wieder welche.

Abb. 6: Jean Mabire

An solchen Einzelheiten wird sowohl der Geist dieser Truppe - als auch jenes Autors erkennbar, der diesen Geist so präzise zu benennen gewillt ist - anstatt ihn gar zu schnell zu übergehen und für unwesentlich beiseite zu schieben. Soweit Statistiken bislang schon ausgewertet worden sind, belegen sie ja, daß schon im Jahr 1941 in manchen SS-Einheiten nur noch eine Minderheit der Angehörigen Mitglieder einer der großen christlichen Kirchen gewesen sind.

Über Jean Mabire (1927-2006)(Wiki) findet sich im Netz noch kein deutschsprachiger Wikipedia-Beitrag. Soweit man es Google-Übersetzungen des französischen Wikipedia-Eintrages entnehmen kann, wird Mabire eine zu weitgehende Verherrlichung der Waffen-SS vorgeworfen. Nur von dem hier behandelten Buch aus geurteilt, kann gesagt werden: wer ein wahrhaftiges Bild von den Soldaten der Waffen-SS geben will, wer erst einmal nur schildern will, "wie es eigentlich gewesen" ist, muß die Motivationen dieser Soldaten auch sehr genau schildern. Der kann über das Selbstverständnis dieser Soldaten nicht oberflächlich hinweggehen. Da Mabire selbst ein idealistischer Soldat im Algerienkrieg Frankreichs war, fällt es ihm offenbar nicht schwer, präzise Schilderungen zu geben von Soldaten, die einerseits idealistisch eingestellt sind, denen andererseits aber auch immer wieder im Hinterkopf so manche Absurdität bewußt ist, als die man sowohl selbst das eigene Handeln empfinden kann, wie das natürlich auch andere können.

Monographien über "Volkserwecker"

Als französischer Freiwilliger der Waffen-SS erlebte man den Zweiten Weltkrieg ja ganz anders als ein durchschnittlicher deutscher Soldat. Sei dieser deutsche Soldat Angehöriger der Wehrmacht oder der Waffen-SS gewesen. Man hatte ja einen ganz anderen Blick, der auch eine gewisse innere Distanz miteinschloß, bzw. der auch wohl mit einem noch anderen Einsatzwillen einhergegangen sein könnte, als dieser in durchschnittlichen deutschen Einheiten vorhanden gewesen sein mag.

Einem ins Deutsche übersetzten Blogbeitrag kann derjenige, der des Französischen nicht kundig ist, schon viele Auskünfte über den Schriftsteller Jean Mabire entnehmen (2). Mabire fühlte sich seiner Herkunft aus der Normandie immer tief verbunden. Hier liest man (das Deutsch wurde im folgenden verbessert):
Mabire wurde in den 1970er Jahren der französische Militärhistoriker der deutschen und europäischen Waffen-SS, der französischen Alpenjäger, der deutschen Fallschirmjäger, der britischen Rotbarette, usw. Diese Monographien erschienen im großen Pariser Verlagshaus Fayard. Er wurde dadurch berühmt, viel gelesen, ohne je ausgeschlossen zu werden. Denn sein strahlendes Charisma konnte jede Schwierigkeit in wunderlicher Weise zur Seite schieben.
Noch interessanter sind vielleicht die folgenden Angaben (Hervorhebung nicht im Original):
Weiter hat er Anfang der 1980er Jahre mit einer Serie begonnen, die er leider nicht weiterschreiben konnte, was er sehr bedauerte: Monographien über Männer, die er „Volkserwecker“ nannte, wie Grundtvig in Dänemark, Padraig Pearse in Irland, Petöfi in Ungarn. Mabire blieb insofern dieser Grundidee der Volksbefreiung durch geistige Rückkehr zu einer idealen, entfremdungsfreien Vergangenheit treu, wie zur Zeit seines jugendlichen Engagements für die Wiedergeburt seiner geliebten Heimat Normandie.

Bei den genannten patriotischen Schriftstellern und Politikern handelt es sich um den dänischen Pädagogen und Politiker N. F. S. Grundtvig (1783-1872) (Wiki), den irischen Schriftsteller und Führer der Aufständischen Padraig Pearse (1879-1916) (Wiki) und den ungarische Dichter und Volksheld Sandor Petöfi (1823-1849) (Wiki). Der Verfasser dieses Blogartikels Robert Steuckers ist Mabire das letzte mal im Dezember 2005 begegnet, als Mabire schon an Krebs erkrankt war:

Jean Mabire hat mit seiner hellen Stimme und seinem unvergleichbaren Sinn für Nuancen pausenlos und systematisch über seine Ideen, seine neuesten  Entdeckungen gesprochen, als ob er gar keine heimtückische Krankheit hätte. (...) Und dann kam das letzte Händeschütteln, lang, fest und kräftig, mit der ungebrochenen männlichen Kraft eines Freikorps-Offiziers. Und auch mit diesem tiefen kraftvollen blauen Blick, in dem noch so viel vitale Kraft gelegen war. Dieser Blick bleibt mir für immer in mein Gedächtnis geprägt. Ende Januar kam ein gelassener Abschiedsbrief an alle Freunde, in dem Mabire sein eigenes Ende ankündigte. Europa hat einige Wochen später einen seiner besten Söhne verloren. 

Das Grab Mabire's wird nicht von einem christlichen Kreuz geziert, sondern von germanischen Runen.

Jean Mabire und die neuheidnische "Neue Rechte" in Frankreich 

Sicherlich ist es sinnvoll, das Umfeld auszuleuchten, in dem das Werk Mabire's heute hochgehalten wird: Der Verfasser des eben zitierten Nachrufes, Robert Steuckers, gilt laut deutscher Bundesregierung von 1991 (pdf) als führender Vertreter der "Neuen Rechten" in Belgien. 1992 hat er als enger Mitarbeiter von Alain de Benoist (geb. 1943) (Wiki) Moskau besucht (Jungle World, 1998). 1998 hat er der Wochenzeitung "Junge Freiheit" ein Interview gegeben. 1999 hatte "Jungle World" die offenbar keineswegs ganz uninteressanten, weil zum Teil ideenreichen neuheidnischen, nichtchristlichen Aktivitäten Robert Steucker's im Blick. Desweiteren war Dominque Venner (geb. 1935) (Wiki) ein langjähriger Freund von Mabire, der auch eine Biographie für die Internetseite für Jean Mabire verfaßt hat. Das Buch "Heide sein zu einem neuen Anfang" von Alain de Benoist ist einem schon vor Jahren sehr nichtssagend vorgekommen. de Benoist ist auf eine Pariser Eliteschule gegangen, die aus einem Jesuitenkolleg hervorgegangen ist. Jedenfalls kommt einem da dieser Mabire auf den ersten Blick viel interessanter vor.

Im Antiquariats-Buchhandel heißt es über eines seiner wenigen weiteren ins Deutsche übersetzten Bücher, nämlich eines über die "SS-Panzer-Division Wiking" (Wiki) (Justbooks):

Aus zahlreichen Nationen sammelten sich Freiwillige in der Division Wiking, um im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront auf deutscher Seite für eine gemeinsame Idee zu kämpfen. Durch ihre Waffentaten wurde die 5. SS-Panzer-Division Wiking weltbekannt. Der Autor Jean Mabire stellt eindrücklich dar, wie aus Dänen, Norwegern, Finnen, Schweden, Holländern, Flamen, Schweizern und Volksdeutschen anderer europäischer Länder ein einheitlicher, schlagkräftiger Verband wurde. Er schildert Ausbildung,  Alltag, Taten und die beispiellose Härte des Einsatzes bis zum langen Weg durch Osterreich und Bayern in die Gefangenschaft. (...) Das Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung.

Viele Soldaten der Waffen-SS und der Wehrmacht haben nach eigenem Selbstverständnis zwischen 1939 und 1945 Mitteleuropa gegen jenen Materialismus und Existenzialismus verteidigt, wie er von den Armeen der westlichen Demorkatien und der Sowjetunion 1945 nach Mitteleuropa hineingetragen worden ist. Und wie er dort bis heute - immer noch scheinbar weitgehend alternativlos - vorherrscht.

Woher stammt die Mordmoral in Teilen der SS?

Daß der neuheidnische Gedanke, der Kirchen-, Logen- und Okkultismuskritik mit einschloß, und für den das Dritte Reich nun einmal auch stand, von zahlreichen internationalen satanistischen Okkultlogen auf ganz andere Wege geführt werden konnte ("gehijackt" werden konnte), als das 20-Jährigen damals bewußt war und bewußt sein konnte (worüber aber inzwischen viel gesagt werden kann, wie viele Beiträge diese Blogs aufzeigen), steht auf einem anderen Blatt und ändert nichts an dem Selbstverständnis vieler dieser Soldaten. Über dieses Selbstverständnis kann nicht einfach leichtfertig hinweg gegangen werden. Ein solcher Idealismus sollte aber auch nie wieder von satanistischen Okkultlogen mißbraucht werden können. In den internationalen Kriegen und im internationalen "Terrormanagment" von heute geschieht aber vielfach sehr viel ähnliches wie das, was während des Zweiten Weltkrieges geschehen ist.

Viele Tatsachen weisen darauf hin, daß die seit den frühen 1920er Jahren in die SA, in die SS und in die Reichswehr/Wehrmacht hineingetragene elitäre Mordmoral aus eben diesen Okkultlogen stammt und von diesen angefeuert worden ist. So waren nämlich schon die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, an Matthias Erzberger und Walter Rathenau, worauf selten hinwiesen wird - - - Logenmorde. Es waren Morde, zu denen die Todesurteile im von vormaligen Freimaurern gegründeten Thule-Orden gesprochen worden sind (vgl. Wikipedia). Von diesen Logenmorden führt ganz offensichtlich über zahlreiche weitere "Fememorde" im Zusammenhang mit den Freikorps und der Schwarzen Reichswehr, dann über die Morde der SA ab etwa 1930 eine gerade Linie hin bis zu Einrichtung der Einsatzkommandos der SS im Reichssicherheitshauptamt durch das Skaldenordens-Mitglied Werner Best ab 1938 für Mordeinsätze in ganz Europa.

Dazu ist hier auf dem Blog schon viel veröffentlicht worden und wird noch mehr veröffentlicht werden.

Lothar Loewe als Hitlerjunge in den Kämpfen um Berlin

Ergänzung 19.4.2021. Auch der spätere ARD-Auslandskorrespondent Lothar Loewe (1929-2010)(Wiki) war als Hitlerjunge ebenfalls an den Endkämpfen von Berlin beteiligt (8) (1:17:15):

Wir bezogen unsere Gefechtsstellung am Flugplatz Tempelhof am 21. oder 20. April. Und ich habe dann die Kämpfe hier in Berlin miterlebt bis zum Ende, auch bis zum Ausbruch aus Berlin. Am 2. Mai wurde ja in Berlin kapituliert, nicht aber im Westen der Stadt, dort gab es ja einen großen Ausbruchversuch über Spandau, um die Wenck-Armee, die in Nauen stehen sollte, zu erreichen. Und daran habe ich teilgenommen. Und am 30. April ergab es sich, daß ich auch einen sowjetischen Panzer abgeschossen habe mit einer Panzerfaust. (...) Der Abschuß eines Panzers in den Straßen war gar nicht so schwierig. Meine Kameraden und ich haben die Gefahr, getroffen zu werden, verwundet zu werden oder gar umzukommen, eigentlich unterschätzt. Die Angst kam später. Nach dem Abschuß, als dieser Panzer auseinander flog, und die russische Infanterie in dieser Straße also vordrang, und wir uns sehr schnell durch Kellergänge und andere Straßen zurückziehen mußten, dann kam die Angst. Und die Angst, die eigentliche, große Angst vor dem Tode kam nach meiner Verwundung. Wenn Sie erstmal verwundet sind, dann sind Sie so geschockt und so schockiert .... (...) Ich war immer noch gehfähig und hatte immer noch den Wunsch, den Russen zu entgehen. Und das ist der Grund, weshalb ich mit meiner Einheit dann an diesem Ausbruch teilgenommen habe. Aber ich habe dann eigentlich keinen Schuß mehr abgefeuert und hatte jedesmal Angst, wenn irgend eine Granate einschlug. Ich hatte eine schreckliche Angst, nochmal getroffen zu werden.

Über die Zeit nach der Gefangennahme berichtet er (8) (1:22.28):

Wir marschierten quer durch Berlin. Wir kamen in Spandau an und marschierten die Heerstraße ... über die zerstörte Heerstraßen-Brücke balancierten wir über die Brückentrümmer, und dann in einer riesigen Kolonne, vielleicht zehn-, vielleicht fünfzehntausend Gefangene und marschierten dann den Kaiserdamm, also die Ost-West-Achse runter quer durch Berlin. Berlin sah aus wie Karthago. Die Brände waren erloschen, die Russen waren da, die Straßenschilder waren russisch, russische weibliche Soldaten regelten den Verkehr, (...) Viehherden, Rinderherden wurden über den Kaiserdamm gen Osten getrieben. (...) Die Stadt machte eigentlich den Eindruck einer russischen Stadt. Ich habe nicht für möglich gehalten, daß Deutschland je wieder in irgendeiner Form gedeihen konnte.

/ Letzte Überarbeitung:
19.4.2021 /
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*) Le Tissier beispielsweise (5) gibt einen guten Überblick über den Gesamtablauf. Aber in seinem Buch kommt das konkrete Geschehen vor Ort fast immer zu kurz. Mabire führt er in seinem Literaturverzeichnis an, hat ihn aber offensichtlich nicht ausgewertet. Wenn Le Tissier das häufiger gemacht hat, wird man seine Darstellung noch nicht als die angemessenste bezeichnen dürfen.
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  1. Mabire, Jean: Berlin im Todeskampf 1945.: Französische Freiwillige der Waffen-SS als letzte Verteidiger der Reichskanzlei. 1977. Nebel Verlag GmbH, 2002 (Google Bücher)
  2. Steuckers, Robert: In Memoriam Jean Mabire. Dimanche 18 décembre 2011.
  3. Venner, Dominique: Jean Mabire. Auf: Jean-Mabire.com 
  4. Mabire, Jean: Blutiger Sommer in Peking. Der Boxeraufstand in Augenzeugenberichten. Verlag Paul Neff, Wien [u.a.] 1978 (398 S.); Ullstein, Luebbe Bergisch-Gladbach 1978, 1980, 1983; Bertelsmann, Gütersloh um 1980
  5. Mabire, Jean: Die SS-Panzer-Division "Wiking". Germanische Freiwillige im Kampf für Europa. Mit zahlreichen Bildtafeln. Karl W. Schütz-Verlag, Preußisch Oldendorf 1983; Edition Dörfler im Nebel Verlag, Egolsheim 2001, 2002 (432 S.)  
  6. Panzer Marsch. Verlag: Grancher, 2011
  7. Le Tissier, Tony: Der Kampf um Berlin 1945. Von den Seelower Höhen zur Reichskanzlei. Ullstein Verlag, Frankfurt/Main 1991 (engl. 1988)  
  8. Lothar Loewe (Journalist), Als Hitlerjunge im Kriegseinsatz in Berlin 1945. In: Irmgard von zur Mühlen: Ansichten vom Ende - Einsatz an der Ostfront 1945 (ohne Jahr, nach 1991), CHRONOS-MEDIA History, https://youtu.be/j7Ln9M5xvdI, 3:40,  1:17:15, 1:22.28

Freitag, 31. August 2012

Erich Ludendorff als Gesprächspartner des militärischen Widerstandes gegen Hitler (I)

Vorbemerkung: Auf diesem Blog werden auch einige Vorarbeiten zu einer wissenschaftlichen Biographie Erich Ludendorffs (1864-1937) eingestellt. Erich Ludendorff ist - nach Herkunft und Gesinnung - als einer der letzten betont preußischen Persönlichkeiten der deutschen Geschichte anzusprechen.

Wie stark Erich Ludendorff auch noch in seinen Altersjahren etwa der insbesondere freigeistigen preußischen Tradition verbunden war, wird zum Beispiel erkennbar daran, daß er eine Schrift herausbrachte "Friedrich der Große auf der Seite Ludendorffs". In dieser wird daran erinnert, daß der bedeutendste Preuße und einer der bedeutendsten Freigeister der Weltgeschichte Christentum und Kirche nicht belobhudelt hat wie es bis heute allerorten in staatsnahen Kreisen - unverständlicherweise sogar bis tief in die Sozialdemokratie hinein - üblich (geworden) ist, sondern - gemeinsam mit seinem Freund Voltaire - klar und deutlich als überholte Erscheinungen der Weltgeschichte lächerlich gemacht und abgelehnt hat.

Erich Ludendorff als Gesprächspartner des militärischen Widerstandes gegen Hitler (I)


Aufsatz in zwei Teilen (dies ist Teil 1 - hier: Teil 2)

Nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 ist Erich Ludendorff vielfach von den Spitzen des deutschen Staates und der Wehrmacht umworben worden. Er stand aber zugleich in einem scharfen Spannungsverhältnis zu diesen. Das Ergebnis umfangreicher Verhandlungen Erich Ludendorffs mit der Wehrmachtspitze, insbesondere mit Ludwig Beck, lautete für Ludendorff: "Die Wehrmacht wird bald die abgelehnteste Einrichtung im ganzen Deutschen Reich sein." Nach mancherlei Beschönigungen der Wehrmacht in den Jahrzehnten nach der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland sollte Erich Ludendorff mit dieser Voraussage spätestens mit und seit der Wehrmacht-Ausstellung des Jahres 1995 recht behalten.

Über das Verhältnis Erich Ludendorffs zum Nationalsozialismus und zum Dritten Reich schreibt der Historiker Manfred Nebelin in einer Rezension in der FAZ im Juni 2014:
Leider bleibt es hier wieder bei spärlichen Hinweisen, etwa zur Rolle von Ludendorffs zweiter Ehefrau, der Nervenärztin und Religionsphilosophin Mathilde von Kemnitz („die wirre Mathilde“). So lassen sich die ungeklärten Fragen nach dem Verhältnis Ludendorffs zu Hitler, der NS-Ideologie und dem "Dritten Reich" nicht zufriedenstellend beantworten.
In der Tat: "Die ungeklärten Fragen nach dem Verhältnis Ludendorffs zu Hitler, der NS-Ideologie und dem 'Dritten Reich'". Ihnen ist auch der folgende Artikel gewidmet. Wobei natürlich von vornherein klar ist, dass es Unfug, frauenverachtend und herabsetzend ist, von "die wirre Mathilde" zu sprechen. Aber das nur nebenbei. Die sehr eigenartige Stellung, die Erich Ludendorff während des Dritten Reiches einnahm, ist bis heute überraschend wenig erforscht worden. 2008 ist in der neu aufgelegten "großen" Biographie des Generals Ludwig Beck (1880-1944) von Seiten des Historikers Klaus-Jürgen Müller (1930-2011) in einem sehr ausführlichen Kapitel auch viel Licht geworfen worden auf die Rolle Ludendorffs während des Dritten Reiches (1).

Abb. 1: Erich Ludendorff - Internationales Pressefoto, Ende März/Anfang April 1935
Die Historiker Manfred Nebelin und Rainer A. Blasius haben dann 2012 in ihrem Gedenkartikel zum 75. Todestag Erich Ludendorffs (7) an inhaltlich zentraler Stelle ein zeitgenössisches Zitat von Ludwig Beck gebracht ("Alle Schuld auf Ludendorff"), das - wie genauere Recherche ergibt - dieser schon 1980 erschienenen geschichtlichen Studie über Ludwig Beck von Klaus-Jürgen Müller entnommen ist (8). Diese hat das Verhältnis Ludendorff-Beck inhaltlich schon fast vollständig deckungsgleich dargestellt zu dem neu aufgelegten Buch desselben Autors aus dem Jahr 2008. Auf all das ist der Blogautor erst im Jahr 2012 gestoßen.

Es handelte sich also 2008 gar nicht - wie zunächst gedacht - um Neuerkenntnisse dieses Jahres 2008, sondern um die Wiederveröffentlichung genau derselben Erkenntnisse, wie sie schon 1980 veröffentlicht worden waren, wie sie aber seither so gut wie gar nicht wahrgenommen und rezipiert worden waren von der Geschichtswissenschaft. Und zwar weder von der Wissenschaft selbst, noch von einer etwaig interessierten Öffentlichkeit. Auf das Bild Erich Ludendorffs und seines Verhältnisses zum Dritten Reich hatte die Studie von 1980 seither gar keinen Einfluss genommen, da sie kaum jemanden in ihrer Bedeutung bekannt war und von niemanden dahingehend ausgewertet worden ist bis heute.

Ein bedeutendes Versäumnis des Ludendorff-Forschers Franz Uhle-Wettler

Ein Grund von mehreren dafür, dass das bis heute nicht geschehen ist, liegt sicher darin, dass die Bedeutung dieser Studie von 1980 in der sonst sehr verdienstvollen Ludendorff-Biographie von Franz Uhle-Wettler aus dem Jahr 1995 überhaupt nicht herausgearbeitet worden ist (auch nicht in ihrer kürzlich erfolgten Neuauflage beim Ares-Verlag). Dass diese Bedeutung also von dem Ludendorff-Forscher Franz Uhle-Wettler völlig übersehen worden ist.

Obwohl doch gerade er zu jener "Neubewertung" Veranlassung geben wollte, die im Untertitel seines Buches angekündigt wurde. Statt dessen behandelte er die Inhalte der Beck-Studie aus dem Jahr 1980 auf nur zwei Seiten seines Buches. Und das geradezu beiläufig (S. 415-417). Jedenfalls so, dass dabei keineswegs eine Neubewertung der Rolle Ludendorffs im Dritten Reich herausgearbeitet worden wäre, wie es gerade - und vor allem - anhand dieser Studie zu leisten gewesen wäre und ist.

Das eben angedeutete zeitgenössische Zitat, das ebenfalls derselben entnommen ist ("Alle Schuld auf Ludendorff"), wirft inhaltlich eine solches Füllhorn von Fragen auf, dass es wirklich verwunderlich ist, dass diese Beck-Studie aus dem Jahr 1980 dreißig Jahre lang zu keinerlei Erörterungen über die Rolle Erich Ludendorffs im Dritten Reich Anlass gegeben hat. Erich Ludendorff als einen bedeutenden Faktor innerhalb der Handlungen des deutschen militärischen Widerstandes gegen Hitler anzusehen, lag in den vielen Jahrzehnten offenbar nicht auf der als "volkspädagogisch wertvoll" erachteten Linie der deutschen Historikerschaft. Und das ist offenbar noch heute unangenehm. Aus den Logen und katholischen Orden heraus ist dafür offenbar noch kein grünes Licht gegeben worden. Denn man müsste sich ja dann, wie auch im Eingangs-Zitat anklingt, damit auseinandersetzen, warum Erich Ludendorff so handelte wie er es tat. Aus welchem weltanschaulichen Hintergrund heraus er das tat. Das ist alles - sicherlich! - sehr unangenehm. (Auch auf dem Wikipedia-Artikel zu Erich Ludendorff war übrigens diese für die Biographie Ludendorffs wichtige Studie von Klaus-Jürgen Müller aus dem Jahr 1980 bis zur Intervention des Autors dieser Zeilen nicht genannt.)

Die neuen Erkenntnisse der Jahre 1980 (bzw. 2008) werden im vorliegenden Beitrag kurz genannt unter Anführung einiger der wesentlichsten Sachverhalte aus dem Buch von Klaus-Jürgen Müller. Es wäre allerdings eine sehr viel ausführlichere Auswertung angebracht, als sie im folgenden gegeben werden kann. Dieser vorliegende Beitrag zielt seinem ursprünglichen Anliegen nach vor allem darauf ab, heute weniger bekannte Zeitungsartikel, Photographien und Filmaufnahmen zusammenzutragen, die rund um den siebzigsten Geburtstag Erich Ludendorffs am 9. April 1935 entstanden sind, und die zu erläutern sind mit Hilfe von zeitgenössischen Berichten. Unter anderem auch zwei Photographien aus einem noch bis vor kurzem unbekannt gebliebenen Fotoalbum aus dem privaten Besitz des Generals Werner von Blomberg (1878-1946).

März 1935 - "Er hat für Jahre in Vergessenheit gelebt, jetzt könnte er in den Generalstab zurückkehren"

Abb. 2: März 1935
Die Feier des 70. Geburtstages Erich Ludendorffs in Deutschland wurde auch in der ausländischen Presse behandelt. Aus diesem Anlass wurden viele Artikel über Erich Ludendorff veröffentlicht. Eine Zusammenstellung derselben wäre von Wert. Im folgenden nur einige wenige erste Eindrücke mittel der rückseitigen Beschriftungen von zwei Pressefotos Ludendorffs, wie sie immer einmal wieder auf Ebay zum Verkauf angeboten werden. Auf einem britischen Pressefoto (Abb. 2), dessen Erläuterungstext auf der Rückseite (Abb. 3) offenbar schon am 25. März 1935 verfasst wurde, heißt es (eig. Übersetz.):
General Ludendorffs siebzigster Geburtstag könnte ihn als mächtigen deutschen Armeechef an den Tag bringen
Ein Porträt von General Ludendorff, das im Zusammenhang mit seinem siebzigsten Geburtstag am 9. April angefertigt wurde. General Ludendorff war einer von Deutschlands bedeutendsten Soldaten im Weltkrieg aber er hat für Jahre in Vergessenheit gelebt, besonders seit dem Machtantritt des Naziregimes. Nun wird es allerdings so verstanden, als ob er seinen Gegensatz mit Hitler ausgesöhnt hätte und mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht besteht große Wahrscheinlichkeit, dass er in den Generalstab zurückkehren wird. 25. März 1935
Abb. 3: Pressefoto, 25.3.1935 (Rückseite)
Woher wohl solche Erwartungen kamen? Ludendorff selbst kann zu solchen doch keinen Anlass gegeben haben? Wurden solche Erwartungen bewusst "lanciert"? Etwa von der deutschen Wehrmacht-Führung, um Ludendorff in diese Richtung zu drängen?

Ein weiteres internationales Pressefoto von Erich Ludendorff war das in Abbildung 1 gebrachte. Es war auf der Rückseite (s. Abb. 3a) wie folgt beschriftet (eig. Übersetz.):
Internationales Nachrichten-Foto. Ludendorff im 70. Lebensjahr. Einstmals als ein Nazi-Verräter bezeichnet, nun gefeiert.
Berlin, Deutschland. Ein Foto von Erich Ludendorff, das vor wenigen Tagen aufgenommen worden ist, der heute, am 9. April, seinen 70. Geburtstag feiert. Einstmals von den Nazis als "Verräter" bezeichnet, weil er seine Ernennung als Kriegsminister durch Adolf Hitler zurückwies, wird Ludendorff, Deutschlands Kriegsheld, heute vom ganzen Land gefeiert. Dem Vorabend seines Geburtstages gab er eine besondere Note durch die Zurückweisung des Angebotes der Regierung zur Beförderung vom Generalquartiermeister zum Generalfeldmarschall.
Abb. 3a: Rückseite von Abb. 1
Die hier erwähnte Zurückweisung seiner Ernennung zum Kriegsminister durch Adolf Hitler ist eine Presseente. Doch auch hier fragt sich, wie sie entstehen konnte. Zumindest zeigt auch sie, was in den Köpfen damals alles herumspukte aus diesem Anlass. Vielleicht auch in manchen nationalsozialistischen Kreisen und in Hitlers Kopf selbst, wie sich noch in Goebbels Tagebüchern anlässlich des Todes von Erich Ludendorff im Dezember 1937 andeutet. Aber auch sonst ist dies natürlich ein aufschlussreicher Text.

Schon am Vorabend brachte dann etwa eine Münchner Zeitung (Abb. 4a) schon auf der Titelseite groß die Ankündigung der Ereignisse des nächsten Tages: "Die Wehrmacht am 70. Geburtstag des großen Heerführers".

Abb. 4a: Zeitungsmeldung am Vorabend
April 1937: "Einstmals der militärische Genius der Mittelmächte, nun der Vertreter des Heidentums und der Erzfeind des römischen Katholizismus"

In dem britischen Wochenmagazin "The Sphere" (erschienen von 1900 bis 1964) erschien übrigens zwei Jahre später, 1937, nachdem man sich mit dem zuvor in der internationalen Presse "vergessenen" Erich Ludendorff inzwischen vielleicht ein wenig mehr befasst hatte, ein Artikel mit der Überschrift "Ludendorff ist wieder da" (s. Abb. 5a):

Abb. 5a: Artikel im britischen Wochenmagazin "The Sphere" (1937)
Und der Untertitel redete nicht lang um den heißen Brei herum: "Einstmals der militärische Genius der Mittelmächte, nun der Vertreter des Heidentums und der Erzfeind des römischen Katholizismus". Auch der Inhalt dieses Aufsatzes wäre sicherlich von Interesse für eine allgemeinere Beruteilung der damaligen in Deutschland und international vorherrschenden Sichtweisen auf Ludendorff.

Abb. 4: Aus Blombergs privatem Fotoalbum: Ludendorff empfängt Brigadeführer der SA, 9.4.1935 
Dass Ludendorff 1935 die Ernennung zum Generalfeldmarschall durch Adolf Hitler ausgeschlagen hat, war keine Presseente. Dieser Umstand wird ja immer einmal wieder auch sonst in der Literatur erwähnt. Denn das war etwas Ungewöhnliches in damaligen Zeiten. Und dass Ludendorff bis weit über das Jahr 1933 hinaus in scharfer, öffentlicher Gegnerschaft zum Nationalsozialismus gestanden ist, war ebenso keine Presseente.

Abb. 5: Ludendorff empfängt Brigadeführer der SA, 9.4.1935 (Postkarte)
In erster, ganz vorläufiger Weise lässt sich die These aufzustellen, dass es sich bei Erich Ludendorff um eine "innervölkische Opposition gegen Hitler" gehandelt hat, gegen das durch Hitler repräsentierte "Hijacking" der völkischen Bewegung, und damit gegen wesentliche Teile der NSDAP und der Gestapo, gegen die dort vorherrschende Mord- und Kriegsmoral, natürlich auch gegen die okkulten und männerbündlerischen Hintergründe der NS-Bewegung und des Dritten Reiches. Um eine Opposition, von der führende Angehörige der ganz traditionell-christlichen Wehrmacht-Opposition glaubten, sie könnten sie vor ihren eigenen Karren spannen, bzw. sie könnten sich hinter Ludendorffs breitem Rücken verstecken und ihm die Verantwortung überlassen, die sie selbst schon dadurch übernommen hatten, dass sie Hitler überhaupt zum Reichskanzler hatten ernennen lassen und dass sie den Röhm-Morden seelenruhig zugesehen hatten.

Abb. 6: Ludendorff und Blomberg, 9.4.1935
Klar ist, dass Ludendorffs "Tannenbergbund" und die NSDAP sich seit etwa 1928 in scharfer Ablehnung gegenübergestanden und einander zum Teil scharf bekämpft hatten. Schon in seiner warnenden Schrift "Weltkrieg droht auf deutschem Boden" aus dem Jahr 1930, die in viele Weltsprachen übersetzt und in hohen Auflagen verbreitet worden war, hatte Erich Ludendorff der NSDAP und ihrer "hirnverbrannten Außenpolitik" ebenso wie der rechtskonservativen Frontkämpfervereinigung "Stahlhelm" ein gefährliches Spielen mit dem Gedanken unterstellt, durch die deutsche Beteilung an einem europäischen Krieg etwas Gutes für Deutschland bewirken zu können. Viele europäische Militärmächte erwarteten tatsächlich für das Jahr 1932 einen neuen Krieg - wovon auch schon Ludendorff 1930 ausging, und den er durch seine Veröffentlichungen zu "zerreden" versuchte. Dass 1932 kein Weltkrieg ausbrach, rechneten Erich Ludendorff und viele seiner Anhänger dem fanatisch geführten Aufklärungskampf gegen diesen Krieg durch den Tannenbergbund in jener Zeit zu.

Ludendorff hatte in jener Schrift sehr entschieden die Meinung geäußert, dass Deutschland in einem solchen Krieg nur Schlachtfeld würde. Er beschrieb die Folgen eines solchen Krieges schon 1930 in ziemlich deutlicher Weise so, wie sie sich dann auch 1945 für Deutschland einstellen sollten: Ostdeutschland und Osteuropa von der Ostsee bis zur Adria überrannt von der Roten Armee. In Westdeutschland westalliierte Truppen stehend, die Städte durch Bombenflugzeuge zerstört, die Menschen hungernd und aus ihrer Heimat vertrieben.

Abb. 7: Abschreiten der Ehrenkompanie - v. Fritsch, Ludendorff, v. Blomberg
(dahinter wohl Karl Eberth und Wilhelm Adam, s.u.) Tutzing, 9.4.1935
Hingegen wusste Adolf Hitler noch 1944 einen innerparteilichen Ludendorff-Gegner, bzw. -Hetzer großzügig zu belohnen, weil ihm auch noch 1944 deutlich bewusst gewesen sein muss, wie wesentlich der Kampf der NSDAP gegen den Tannenbergbund um 1930 herum für seinen eigenen politischen Erfolg gewesen ist.

Abb. 8:  Abschreiten der Ehrenkompagnie - Ludendorff, v. Blomberg, v. Fritsch - Tutzing, 9.4.1935
(Herkunft: Postkarte)
Am 2. August 1934 war nun der Reichspräsident Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, der Adolf Hitler am 30. Januar 1933 - für viele so überraschend - zum Reichskanzler ernannt hatte, gestorben. In der Wehrmachtspitze ebenso wie innerhalb der NSDAP erinnerten sich nun viele Erich Ludendorffs. Als den bedeutendsten lebenden Repräsentanten des "alten Heeres", ja, als "Mitkämpfer vom 9. November 1923" suchte man ihn für den neuen Staat zu gewinnen. In der Wehrmachtführung suchte man ihn als Gegengewicht gegen die Alleinherrschaft Hitlers und seiner Kriegspläne zu gewinnen. Hitler hat ebenfalls versucht, Ludendorff (neben Rosenberg) als Gegengewicht gegen die starken Einflüsse des Vatikans auf die deutsche Politik in Stellung zu bringen. Darin war er allerdings außerordentlich schwankend. Ludendorffs Gegnerschaft gegen die imperialistischen Bestrebungen der NSDAP waren ebenso bekannt wie seine Gegnerschaft gegen die katholische Kirche.

Abb. 9: Fliegerstaffel zur Ehrung Ludendorffs an dessen 70. Geburtstag, 9.4.1934, Tutzing
(Herkunft: Postkarte)
Ludendorff ließ sich aber weder "vor den Karren" der NSDAP, noch "vor den Karren" der Wehrmacht spannen. Auffallenderweise fand dann kurz nach seinem Tod im Dezember 1937 die Blomberg-Fritsch-Krise statt und das Ersetzen der kriegsunwilligen Generäle und des kriegsunwilligen Außenministers durch Hitler willfährigerere Personen.

Abb. 10: Die Generäle von Fritsch, von Blomberg und Erich Ludendorff
Übrigens ein Geschehen, das der astrologiegläubige Geopolitiker Karl Haushofer damals im deutschen Rundfunk rundum positiv bewertete als ein "Sturmfest-Machen" des deutschen Staatsschiffes angesichts der schweren Krisen, die Haushofer für die nächsten Monate und Jahre zuversichtlich erwartete ... (In seinen öffentlichen Rundfunk-Kommentaren betätigte sich Haushofer als ein Kriegshetzer, wie man es von Hitler selbst in jenen Jahren öffentlich so gut wie nie hörte.)

Abb. 11: Die Generäle von Fritsch, von Blomberg und Erich Ludendorff,
rechts hinter Ludendorff Adjutant von Treuenfeld
Abb. 12: Die Kapelle spielt
Die Feier des 70. Geburtstages Erich Ludendorffs

Zurück ins Jahr 1935: Die Versuche von Partei und Wehrmacht, Ludendorff vor ihren Karren zu spannen, begannen im Wesentlichen im Umfeld des 70. Geburtstages von Erich Ludendorff am 9. April 1935 (Abb. 4 - 20). Noch am Vorabend hatte Hitler - zur Überraschung für viele - für ganz Deutschland die Beflaggung aller Staatsgebäude angeordnet.

Abb. 13: Mathilde Ludendorff, die Generäle von Blomberg, von Fritsch und Ludendorff
auf der Gartenterrasse Ludendorffs in Tutzing
kurz vor den Ansprachen Blombergs und Ludendorffs, 9.4.1935
(Herkunft: Weitze.net)
Die Wehrmachtführung unter dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Generaloberst Werner von Blomberg, besuchte Ludendorff in seinem Haus in Tutzing und überbrachte die Glückwünsche des "Führers und Reichskanzlers". Die Wochenschau brachte Filmaufnahmen von dieser Geburtstagsfeier und einen kurzen Ausschnitt aus Ludendorffs Ansprache (Criticalpast). Bei dieser Aufnahme fällt auf, dass Erich Ludendorff nach seiner Rede keineswegs mit Hitler-Gruß "Sieg Heil!" ruft, wie es zum Teil die Menge tut, sondern dass er drei mal den Arm schwenkt mit seitlich geöffneter Hand und dabei nur "Heil!" ruft. Außerdem konnte man zuvor schon während der "Sieg Heil!"-Rufe der großen Menge in der Nähe der Filmkamera jemanden sehr deutlich "Heiho, Heiho!" rufen hören.

Abb. 14: Mathilde Ludendorff, Bronsart von Schellendorf, von Blomberg, von Fritsch und Ludendorff
auf der Gartenterrasse in Tutzing
(Herkunft: Weitze.net
Ob das eine Verhöhnung der "Sieg Heil!"-Rufe durch Ludendorff-Anhänger gewesen ist oder in welcher Form das eine Art "Nonkonformität", ein Protest gegen das Massenverhalten der damaligen Zeit darstellte, kann nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden. "Heiho!" war der Titel einer der Ludendorff-Bewegung nahe stehenden Jugendzeitschrift, die von einem vormaligen Angehörigen der Jugendbewegung, von Fritz Hugo Hoffmann, herausgegeben wurde (ZVAB). (Der langjährige Ludendorff-Anhänger Fritz Hugo Hoffmann ist 1939 sehr überraschend in das okkulte Lager gewechselt und hat Vorträge am Sanatorium des einflussreichen Okkultisten und Buddhisten Karl Stunckmann  [Pseudonym "Kurt van Emsen"] gehalten. Über sein etwaiges Nachkriegsschicksal ist einstweilen nichts bekannt.)

Abb. 15: Ludendorffs spricht - die Filmaufnahme dazu auf: "Criticalpast"
Mit "Heiho!" fing damals auch ein unter Neuheiden und Ludendorff-Anhängern populäres antichristliches, antipäpstliches Lied an: "Heiho, die Heidenfahnen weh'n, sie grüßen unsere Schar ...". Es enthält unter anderem die Strophe: "St. Peters Felsen wanket schon, bestürmt ihn, bis er bricht / wenn fällt der letzte Priesterthron, dann wird's in Deutschland licht." Zeitweise waren auch diese Worte als gegen den Nationalsozialismus gerichtet empfunden worden, der mit dem Reichskonkordat und anderem von Kirchenkritikern bis 1935 als "romhörig" empfunden worden ist.

Abb. 16: Mathilde und Erich Ludendorff auf ihrer Gartenterrasse, 9.4.1935
(Herkunft: Weitze.net
Noch im Jahr 1966 wird eine Werbeanzeige für Ferienaufenthalte auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein (in der Zeitschrift "Mensch & Maß", 9.4.1966) geschlossen mit den Worten: "Mit unserem vertrauten Gruß Heiho!" Woraus wohl auf eine allgemeinere Verbreitung dieser Grußform unter Ludendorff-Anhängern geschlossen werden kann.

Abb. 17: Mathilde und Erich Ludendorff auf ihrer Gartenterrasse, 9.4.1935
(Herkunft: Postkarte)
Ludendorff selbst hatte in den Vorgesprächen zu diesem Besuch klar gemacht, dass ihm ein Besuch Hitlers selbst unerwünscht sei. Ebenso wollte er sich von Hitler nicht zum Generalfeldmarschall ernennen lassen.

Abb.: Ehepaar Ludendorff auf der Terrasse ihres Hauses in Tutzing, 9. April 1935
(Herkunft: Ebay, Oktober 2014)
Ein privates Fotoalbum von Werner von Blomberg

Vor einiger Zeit ist ein privates Fotoalbum des Generalobersten Werner von Blomberg versteigert worden (bei Ebay). In ihm finden sich neben Manöverfotos und Fotos von zahlreichen gesellschaftlichen Anlässen,  Besprechungen und Dienstfahrten auf einer Seite auch zwei Fotos mit der handschriftlichen Erläuterung: "Ludendorffs 70. Geburtstag in Tutzing".  (Leider waren die Fotos bei Ebay nur in schlechter Qualität eingestellt worden, siehe Abb. 4 und 18.)

Abb. 18: Aus Blombergs privatem Fotoalbum:
Blomberg und Fritsch bei Ludendorff in Tutzing, 9.4.1935
Oben auf der genannten Album-Seite befand sich zunächst das hier als Abbildung 4 wiedergegebene Foto. In einem sehr ausführlichen und reich bebilderten Bericht dieses Tages - wohl aus der Feder von Mathilde Ludendorff (2) - ist ein diesem sehr ähnliches Foto veröffentlicht worden. Es entstand während eines Besuches, der schon sehr früh am Morgen des 9.4.1935 stattfand, noch bevor die Wehrmacht-Generalität eintraf (2, S. 57):
... Danach meldeten sich, geführt von Herrn Lohbeck, Brigadeführer der S.A., die gerade in München zu einem Kursus versammelt waren und zuvor um den Empfang gebeten hatten. Der Feldherr sprach mit ihnen in eindringlichen Worten über die Notwendigkeit der seelischen Geschlossenheit des Volkes ...
Warum gerade auch dieses Foto, das noch vor der Ankunft von Blomberg's und von Fritsch's bei Ludendorff an diesem Tag entstanden ist, von so vielen anderen möglichen seinen Weg in das Album von Blomberg gefunden hat, darüber kann derzeit nur spekuliert werden. Ludendorff hatte sich geweigert, an diesem Tag Hitler zu empfangen. Vielleicht wurde das Zugeständnis Ludendorffs, dennoch diese Partei-, bzw. SA-Führer zu empfangen, von Blomberg als Zeichen grundsätzlicher Gesprächsbereitschaft auch mit Kräften der NSDAP empfunden?

Oder war es umgekehrt ein weiteres Signal des Mitgefühls mit den Ermordeten des 30. Juni 1934, zu denen zahlreiche enge frühere Mitkämpfer Ludendorffs gehörten (z.B. Röhm selbst, ebenso Gregor Strasser), und wie er es schon unmittelbar danach durch einen Privatbesuch bei der Witwe von Gregor Strasser zum Ausdruck gebracht hatte?

Abb. 19: Ludendorff begrüßt Anhänger
Links steht der "SA-Oberführer" Hermann Lohbeck, ein vielfach ausgezeichneter Offizier des Ersten Weltkrieges. Er stammte aus Düsseldorf (1892-1945, gest. in Frankfurt/Oder) und war 1933 Führer der dortigen SA-Brigade 75. Als solcher hatte er 1934, also nur ein Jahr vor diesem Besuch, offenbar in Opposition zum dortigen Gauleiter Karl Florian gestanden und auch schwere Auseinandersetzungen, zum Teil gewalttätiger Art sowohl mit anderen SA-Führern und -Kameraden, als auch mit diesem Gauleiter gehabt. Wobei auch Trunkenheit eine Rolle gespielt haben und auch eine Reitpeitsche benutzt worden sein soll (3, 4). Auf den ersten Blick drängt sich auf: Typischstes SA-Rabaukentum. Davon muss freilich Ludendorff, was diesen Einzelfall betrifft, nichts gewusst haben. 1935 ist Lohbeck deshalb ja auch rehabilitiert worden. Auch scheint es Berichte von Misshandlungen Gefangener durch Lohbeck zu geben (3). Durch derartige biographischen Angaben stellt sich die Frage natürlich noch einmal verschärft, warum Ludendorff an seinem Geburtstag, ein Dreivierteljahr nach den Röhmputsch-Morden, ausgerechnet SA-Führer empfing und warum von Blomberg ausgerechnet ein Foto davon in sein privates Album klebte.

Abb. 20: Ludendorff begrüßt Anhänger
Vielleicht deutet sich eine Antwort auf diese Frage an in Geschehnissen zwei Jahre später, im Sommer 1937, als Adolf Hitler und andere in seinem Umfeld im Zusammenhang mit der sogenannten "Landesverrats-Affäre" Mordpläne gegen Erich Ludendorff hegten (Stud. Nat. 01/2013). Da erhielt Erich Ludendorff eine sehr konkrete Warnung über diese Mordpläne Anfang Juli 1937, stammend von einem namentlich nicht genannten Sturmbannführer der SA, der von einem namentlich nicht genannten Brigadeführer der SA über jene Äußerungen gehört hatte, die Adolf Hitler am 5. Juni 1937 in einer Ansprache vor einer Gauleiter-Versammlung in Berlin gemacht hatte. Und am 13. Juli 1937 erhielt Erich Ludendorff einen:
Brief aus Berlin, Feldherr möchte sich durch Leute der SA schützen lassen.

Aufsatz in zwei Teilen --> hier folgt: Teil 2

Dienstag, 8. Mai 2012

Im Gästehaus des Königs von Preußen

Zum 300. Geburtstag des großen Freigeistes Friedrich II.

Man denke sich Angela Merkel, Jürgen Habermas, "Kulturstaatsminister" Michael Naumann, den "geistreichen Plauderer der Nation" Jörg Thadeusz und - sagen wir - einen Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke (d.Ä.) - und außerdem noch zahlreiche andere Personen - vereinigt in einer Person. Nicht möglich? Doch: König Friedrich II. von Preußen (1712-1786) (Wiki), dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 300. male jährt, hat alle diese Personen in sich vereinigt. Wobei die eigentliche Bedeutung dieses Königs nicht darin liegt, daß er ein erfolgreicher Politiker oder ein tapferer und erfolgreicher Feldherr gewesen ist. Mit beidem schuf er sich bestenfalls die Voraussetzungen für die von ihm gesehene Hauptaufgabe. Und diese lag darin, daß er ein bedeutender Förderer der Kultur und der geistig-moralischen Entwicklung seines Landes - und Europas überhaupt - gewesen ist.

Dieser Umstand könnte im Preußenjahr 2012 noch weitaus deutlicher herausgestellt werden, als es gegenwärtig geschieht. Wer heute nach Potsdam und Sanssouci fährt, betritt Boden, der überall von Kultur durchtränkt ist. Und dieser Umstand ist niemandem mehr zu verdanken als Friedrich dem Großen. Man betritt eine "Kulturlandschaft", die wie keine zweite diesen Namen verdient. Überall, wo Friedrich in Berlin und darüber hinaus seine Spuren hinterlassen hat, trifft man auf Kultur. Man denke nur an den Gendarmenmarkt, Berlins "schönsten" Platz.

Welche von den Kasernen Friedrichs des Großen steht heute noch? Welcher seiner Exerzierplätze ist heute noch bekannt? Sein Staat ist zerschlagen wie kaum ein zweiter in der Geschichte. Aber sein kulturelles Erbe wird gepflegt, wohin man blickt. Mit großer Andacht. Sicherlich weil viele ahnen: Hier liegt die eigentliche Bedeutung dieses großen Königs - und damit: dieses großen Menschen.

Abb. 1: Figurengruppe "Apoll und die Musen" aus der Hadriansvilla  bei Rom im Empfangssaal des "Neuen Palais"

Ein gutes Beispiel: Wer die diesjährige Friedrich-Ausstellung im "Neuen Palais" in Potsdam betritt, steht im zentralen Empfangssaal zunächst der Figurengruppe "Apoll und die Musen" gegenüber. Eine Figurengruppe aus dem ersten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung. Diese griechisch-antiken Skulpturen waren im 16. und 17. Jahrhundert in der Nähe der Hadriansvilla bei Tivoli, 30 Kilometer nordöstlich von Rom, ausgegraben worden. Dort hatte man ähnlich bedeutende Funde gemacht wie zu gleicher Zeit in Pompeji. Und Friedrich erwarb diese bis dahin in Frankreich aufbewahrte Figurengruppe schon im dritten Jahr seiner Regierung, 1742, um sie in seinem Antikentempel in Sanssouci aufzustellen und dort der Öffentlichkeit und der Wissenschaft zugänglich zu machen.

Abb.2: Männliches Genital hinter Frauenkleid? Achill versteckt sich feige bei den Töchter des Lykomedes? - Nein, es ist Apoll!
Zu seiner Zeit war die Figurengruppe noch irrtümlich interpretiert worden als "Odysseus erkennt Achill unter den Töchtern des Lykomedes" (gut erläutert hier: PNN). Eine recht amüsante Verwechslung, da man hinter Frauenkleidern das männliche Genital des Achill vermutete. Es waren aber keine Frauenkleider, sondern im 1. Jahrhundert ließ man auch Apoll so bekleidet sein. Nachdem die Wissenschaft - erst nach Friedrichs Tod - erkannt hatte, daß es sich um eine falsche - genitalgesteuerte - Zuordnung gehandelt hatte, wurde die Skulpturengruppe - nach einer Neubearbeitung durch den Bildhauer Daniel Friedrich Rauch - im Alten Museum in Berlin neu aufgestellt. Dort steht sie bis heute. In diesem Jahr ist sie aber für die Friedrich-Ausstellung - unter Betonung der vormaligen Interpretation der friderizianischen Zeit - noch einmal nach Potsdam zurückgekehrt.

Während sie zuvor im Alten Museum in der Masse der dort aufgestellten Skulpturen geradezu "untergangen" war, wird sie an diesem Ort viel eher in ihrem Eigenwert wahrgenommen.

Der Kulturförderer Friedrich


Und dies war bei weitem nicht die einzige kulturell bedeutende Erwerbung Preußens während Friedrichs  Regierungszeit. Gleichzeitig zum Antikentempel umgab sich Friedrich in Sanssouci etwa mit der ebenfalls schon damals öffentlich zugänglich gemachten Bildergalerie, in der er bedeutendste Gemälde der europäische Kunstgeschichte sammelte. 

Friedrich der Große war weiterhin, was ja heute noch vielen bekannt ist, ein Förderer des Musiklebens. Rief er doch bedeutende Musiker seiner Zeit nach Berlin und pflegte den Austausch mit ihnen, ja, musizierte und komponierte selbst. Und schließlich: Friedrich war ein Liebhaber des geistreichen, heiteren, philosophischen Gespräches, bzw. des geistreichen Plauderns und Scherzens. Eine Eigenschaft, für die vielleicht heute am ehesten noch ein Jörg Thadeusz steht in der sonst zumeist sehr trist gewordenen, die Menschen immer passiver machenden "Talkshow"-Kultur.

In der ebenso wertvollen Ausstellungs-Abteilung über die Freunde Friedrichs (im Neuen Palais rechts unten) wird einem erst wieder bewußt gemacht, mit welcher Art von Menschen er den Umgang liebte, welche Späße er mit ihnen machte und welche Spannungen es - immer wieder - zwischen ihm und einzelnen von ihnen gegeben hat. Es ist etwas anderes, weit "entfernt" von den Geschehnissen davon zu lesen, als mit der damaligen Lebensumwelt und einzelnen "Sachgütern" und authentischen Porträts, die damit in Zusammenhang standen, direkt konfrontiert zu sein. - Da wünscht man sich, daß große Teile dieser Ausstellung als Dauerausstellung im Neuen Palais bleiben würden. (Viele exemplarische Fotos, die einen guten Eindruck von der Vielfalt des Ausgestellten geben, findet man übrigens unter "Pressebilder".)

"Die meisten Bürgerlichen denken niedrig" - Friedrichs fremdartiges Staatsverständnis


Was man übrigens bislang nie so ganz verstanden hatte, war die Frage: Warum hat Friedrich eigentlich dieses riesige, prachtvolle, fast überdimensionierte "Neue Palais" gebaut? Man versteht offenbar viel von Friedrich und seiner Zeit, wenn man sich bemüht, die Gesamtheit der Motive zu würdigen, die ihn dazu veranlaßten, ein solches Gebäude zu bauen. Und es so zu bauen, wie er es baute.

In erster Linie war es ein Gästehaus für die alljährlichen Besuche seiner über Mitteleuropa verstreuten Verwandten. Dazu gleich noch mehr. Es war zum 2. seine Art von "Siegesdenkmal" nach dem Siebenjährigen Krieg, in dem er zum Beispiel sächsische Kriegsbeute stolz, wenn auch ganz kultiviert - etwa in Form von erbeutetem Meißner Porzellan - präsentierte. Es war zum 3. sicherlich auch politischer "Bluff", indem er der Welt den Eindruck zu verschaffen suchte: Wer solche Schlösser bauen kann, der steht wirtschaftlich ungebrochen da, den sollte man nicht noch ein viertes mal versuchen anzugreifen. Zum 4. diente der Bau dieses Schlosses neben so vielem anderen einfach der wirtschaftliche Kräftigung und Förderung seines Landes, bzw. vor allem auch allen Bereichen der einheimischen Kunst und des Kunsthandwerkes.

Zum 5. versteht man die Art dieses Baues nur aus Friedrichs ganz "vormodernem" Verständnis vom Funktionieren eines Staates und einer Armee heraus. Obwohl das Gebäude bald nach Fertigstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, kann es doch nicht eigentlich volkstümlich genannt werden. Friedrich sprach ganz selbstverständlich nicht vornehmlich den Bürger- oder Bauernstand an mit diesem "Siegesdenkmal", sondern vor allem "Seinesgleichen", das heißt, vor allem den Adel seines Landes. Sein Land mit Kultur zu schmücken, sollte vor allem das Selbstbewußtsein, den Stolz und das Ehrbewußtsein des Adels für das Land und die Verbundenheit desselben mit der Monarchie stärken. Bürgerliche sollten zum Beispiel innerhalb Preußens keine Adelsgüter kaufen können (4):
"Erwerben Bürgerliche Landbesitz, so stehen ihnen alle Staatsämter offen. Die meisten denken niedrig und sind schlechte Offiziere." Die Bemerkung zeugt davon, wie sehr der König in ständischem Denken befangen blieb. (...) Nur der Adel besaß nach Meinung Friedrichs II. "Ehre", ein Standesbewußtsein, das ihn befähigte, dem Staat selbst mit dem eigenen Leben zu dienen. Bürgerliche hatte er während des Krieges zwar notgedrungen aufrücken lassen, doch auf die Dauer wollte er einen solchen Zustand nicht dulden, weshalb er die meisten Offiziere bürgerlicher Herkunft wieder entließ. Die Wohlfahrt des Staates und der Armee beruhte nach Ansicht des Königs darauf, "jederzeit genugsame Edelleute" in seinen Landen zu haben, "welches Endzweckes sie verfehlen würden, wann die Anzahl derer Edelleute durch Verkaufung ihrer Güter an Personen bürgerlichen Standes nach und nach verringert werden sollte."
In diesem Punkt also war Friedrich ganz "unmodern" (siehe auch: 5, S. 31ff). Und es würde wohl viel zum besseren Verständnis von Friedrich und seiner Zeit dienen, wenn man diesem Punkt ausführlicher nachgehen würde. Er vor allem würde einem verständlich machen können, warum einem Friedrich "nah" und "entfernt" zugleich erscheint. So volkstümlich er als Person auch bei Bürgerlichen und Bauern in ganz Europa und Nordamerika war: Er selbst sprach mit seinem "Siegesdenkmal" seine europäischen adligen Verwandten und den Adel seines Landes an.

Die Gastfreundschaft Friedrichs


Nun aber zurück zum ersten Motiv. Friedrich wird bis heute gern dargestellt als menschenfeindlicher Eigenbrötler, als "Einsiedler von Sanssouci", der Hofgesellschaften abgeneigt war. Das ist aber, wie man im Zusammenhang mit der derzeitigen Ausstellung im "Neuen Palais" erfahren kann, bestenfalls das halbe Bild. Insofern es sich um seine Familie und zahlreiche angeheiratete Verwandte handelte, war Friedrich durchaus sehr gastfreundlich und gesellschaftlich aufgeschlossen. Denn gerade dafür hatte er dieses riesige "Gästehaus" erbaut.

Abb. 3: Karl Christian Wilhelm Baron - Blick vom Klausberg auf das Neue Palais - 1775
Friedrich hatte einfach viele Geschwister, wie diese Ausstellung klar macht (im "Neuen Palais" links unten). Und er hatte dadurch auch viele angeheiratete Verwandte, mit deren Kindern und Enkelkindern er als Onkel in abgestuften Graden verwandt war, und die über ganz Europa verstreut lebten. Zwischen Schweden und Württemberg. Sie leisteten Dienst in seiner Armee und sie kamen auch sonst gern zu ihrem königlichen Verwandten nach Berlin und Potsdam zu Besuch. Wie in dieser Zeit üblich, waren Heiraten zwischen Fürstenhäusern ein wesentlicher Bestandteil der Politik. Einmal im Jahr lud Friedrich deshalb alle diese Verwandten für drei Wochen zu sich nach Potsdam ein - in das "Neue Palais".

Abb. 4: Ausschnitt aus Abb. 1 - König Friedrich auf einem Schimmel hinter einer sechsspännigen Kutsche seiner Gäste - 1775
In diesem Palais konnte mit dem vorhandenen Porzellan ein Galadiner für 90 Personen gedeckt werden. Und in ihm konnte die versammelte Gesellschaft nicht nur kleinere Konzerträume aufsuchen, die zahllosen Gemälde in den zahllosen Sälen besichten, sondern sogar eine eigene Opern-, bzw. Theaterbühne besuchen (im Palais oben rechts). In der Ausstellung werden dankenswerterweise eine ganze Menge Portraits der Verwandten und Gäste Friedrichs gezeigt, die im Begleitheft (1) noch einmal erläutert werden mit allerhand Besonderheiten ihres dortigen Aufenthaltes.

So ist auch die Ankunft der Gäste im Juli 1775 auf einem zeitgenössischen Gemälde (Abb. 3 und 4, ein besseres Foto noch hier) festgehalten worden und wird ausgestellt. Die sechsspännigen Kutschen sind am Schloß Sanssouci vorbeigefahren und fahren gerade weiter zum Neuen Palais. Man kann gut erkennen, wie sehr sich der Park damals noch von der heutigen Gestaltung unterschied (1):
Das Bild zeigt die Ankunft einer Gesellschaft am Neuen Palais im Juli 1775. In den beiden 6-spännigen Kutschen sitzen verschiedene württembergische und hessische Prinzen und Prinzessinnen. Auf einem Schimmel ist der König zu erkennen.

Liebenswerte Details aus dem Leben Friedrichs


Friedrich hat hier ein großes, bewohnbares "Museum" nach seiner Art für die Mit- und Nachwelt errichten lassen. Schönes, wohin man blickt, wertvollste Materialien. Auch hübsch etwa das "Ovale Kabinett" (vom Innenhof aus gesehen: links unten), das er Jugenderinnerungen gewidmet hat. Es ist nämlich mit Illustrationen des Malers Jean-Baptiste Pater zu dem "Romane Comique" von Paul Scarrons (1610 - 1660) geschmückt. Ein Roman, den Friedrich und seine Schwester Wilhelmine in ihrer Kindheit so liebten, weil sie so viele Personen ihres eigenen Hoflebens in diesem Roman karrikiert wiederfanden. Auf Wikipedia wird man angeregt, selbst noch einmal diesen Roman in die Hand zu nehmen:
Ein auch heute noch gut lesbarer burlesker Roman, dessen Rahmen- und Haupthandlung mit derber Komik den heroisch-galanten Roman à la Scudéry und La Calprenède parodiert und persifliert und dessen eingelegte Novellen und Binnenerzählungen im galant-sentimentalen Ton spanischer Vorbilder gehalten sind.
Friedrich hatte also auch noch nach drei Kriegen seine heiteren Jugenderinnerungen und -lektüren nicht vergessen. Und so trifft man auf zahllose liebenswerte Details in dieser Ausstellung und in diesem Gebäude, die sicherlich einen zweiten und dritten Besuch zur Vertiefung der Eindrücke wert wären. Man möchte jedes Jahr für drei Wochen wiederkommen! :) glücklich

Die Privaträume Friedrichs etwa (ganz rechts unten) machen nicht nur das damalige höfische Besuchszeremoniell bewußt, und in welcher Weise Friedrich es für seine Bedürfnisse vereinfachte und abwandelte, nein, viel wichtiger ist: Auch in ihnen stehen die Kunst, die Musik und die Bücher (Bibliothek und Lesekabinett), das tägliche geistreiche mehrstündige Gespräch an der Essenstafel und die Regierungstätigkeit im Vordergrund der Lebensinhalte.

Man erfährt neben so vielem anderen in der Ausstellung auch von einer polnischen adligen Freundin Friedrichs, ja, einer "leidenschaftlichen Verehrerin", nämlich der Gräfin Marianna Skórzewska aus Westpreußen. Den Weg in das deutschsprachige Wikipedia und Internet hat diese Dame bislang noch  nicht gefunden (Ausnahmen: ab), um so bedeutender ihre Erwähnung in der Ausstellung.

Ein weiteres Thema, dem man sich vertiefend zuwenden könnte, wäre die Nutzung des "Neuen Palais" ab 1859 durch die Familien der preußischen Kronprinzen, des nachmaligen 99-Tage-Kaisers Friedrichs III., der dort auch gestorben ist, und seiner Frau Viktoria. Sowie des nachmaligen Kaisers Wilhelm II. und seiner Frau Auguste Viktoria, die im Antikentempel mit einigen Verwandten begraben liegt. Für beide Familien bildete das Neue Palais bis 1918 den Lebensmittelpunkt.

Frage Friedrichs an seine Zeit: "Nützt es dem Volke, betrogen zu werden?" (1777/1780)


Wer aber mit der Bedeutung Friedrichs als Kulturförderer noch nicht zufrieden gestellt ist, der kann sich auch der Bedeutung Friedrichs als Förderer der politischen Emanzipation zuwenden. 1777 bis 1780 lautete die Preisfrage der von Friedrich wiederbelebten Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, fortgesetzt heute durch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): "Nützt es dem Volke, betrogen zu werden?" Was für eine bösartig klingende Frage. Vielleicht klingt sie in heutigen Ohren mit heutigen Erfahrungen noch deutlich bösartiger als damals. Was für eine Steilvorlage, um Aktualitätsbezüge zwischen Friedrich und der heutigen Zeit herzustellen (1):
Mit 42 Antworten aus ganz Europa ist sie die erfolgreichste Preisfrage der Akademie.
Man stelle sich einmal vor - oder vielleicht lieber nicht? - ein von der Regierung Merkel angeregtes "Jahresthema" der BBAW würde lauten: "Nützt es dem Volke, betrogen zu werden?" Man hätte sicherlich allen Grund, diese Akademiefrage (2) als Anlaß zu nehmen, um frühere wertvolle Ausstellungsansätze (3) weiter auszubauen.

Aber was geschieht stattdessen? Stattdessen wagt es der evangelische Landesbischof von Berlin, seinen Mund aufzutun und an Friedrich dem Großen herum zu kritteln. Nämlich daß dieser seine religiöse Toleranz mit Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber Religionen verbunden hätte. Na so was aber auch! Unerhört! Wie kann man Religionen nur mit Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber stehen! Das kann doch nicht vorbildlich für unsere Zeit sein! Zum Glück gab es einflußreiche Kulturförderer an der ersten Stelle des Staates mit solchen Meinungen nur in früheren Zeiten. Und es ist ärgerlich genug, daß Menschen, die in ihrem "politischen Testament" schreiben konnten (1):
"Es ist gleichgültig für die Politik, ob ein Souverän Religion hat oder nicht. Alle Religionen sind (...) mehr oder weniger absurd."
heute noch geachtet werden und daß man ihnen große Ausstellungen widmet, zu denen die Menschen zu Tausenden strömen! Ach, Landesbischof hin oder her: Man möchte oft wiederkehren in das Gästehaus dieses großen Freigeistes, in das Gästehaus Friedrichs des Großen.
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*) Man darf sich beim Besuch dieser Ausstellung nicht zu sehr auf den "Audioguide" und so zahlreiche besserwisserisch-schulterklopfend-spöttische Ausstellungs-Erläuterungen einlassen. Deren Grundton ist allzu oft, als würde derjenige, der Kultur fördert, damit "bloß" "Selbstinszenierung" betreiben wollen. Dadurch wird man ganz aus der Atmosphäre dieser Räumlichkeiten und dieser allzu zahlreichen Kultur- und Sachgüter aus dem Leben Friedrichs herausgerissen. Diese Charakterisierungen tragen zu einem tieferen Verständnis der Anliegen und der Person Friedrichs des Großen nichts bei.
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  1. Geißler, Nadja u.a.: Friedrisiko. Friedrich der Große. Die Ausstellung im Neuen Palais und Park Sanssouci Potsdam. Begleitheft / Objekthef. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, 2012 (ganz gut zur Ausstellung z.B. auch: Mitteldt. Ztg., 27.4.12 oder Fr. Rdsch.)
  2. Hans Adler (Hrsg.): Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d'etre trompe? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780. Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2007 (pdf) (Perlentaucher, Philobar)
  3. Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Ausstellung "X für U - Bilder, die Lügen", 1999 - 2010
  4. Mittenzwei, Ingrid; Herzfeld, Erika: Brandenburg-Preußen 1648 - 1789. Das Zeitalter des Absolutismus in Text und Bild. Verlag der Nation, Berlin 1987 (3. Aufl. 1990), S. 356
  5. Borchardt, Georg; Murawski, Erich: Die Randbemerkungen Friedrichs des Großen. Podzun-Pallas-Verlag, Friedberg o.J. [etwa 1980er Jahre]